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Centre de recherches en histoire et épistémologie comparée de la linguistique d'Europe centrale et orientale (CRECLECO) / Université de Lausanne // Научно-исследовательский центр по истории и сравнительной эпистемологии языкознания центральной и восточной Европы

-- Roman Jakobson : « Slavische Sprachfragen in der Sovjetunion », Slavische Rundschau, 1934, n°1, S. 324-343.

 

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       Slavische Sprachkunde in der Sovjetunion in den letzten Jahren? Matt sind die Ergebnisse, versteht man unter slavischer Sprachkunde das Studium der west- und südslavischen Sprachen. Freilich entstand in diesen Jahren und entwickelt seine Arbeit das Leningrader Institut für slavistische Forschung an der Akademie der Wissenschaften, jedoch sind sprachwissenschaftliche Probleme leider außerhalb seines Interessenkreises geblieben. Etwas größere Erfolge lassen sich, um eine beliebte militärische Metapher der heutigen russischen Presse zu gebrauchen, am literaturwissenschaftlichen Abschnitt der slavistischen Front verzeichnen. Das imponierende Buch von Kravcov „Serbskij epos" (Academia 1933) vermittelt dem russischen Leser in geschickter Weise die Schätze der serbokroatischen Wortkunst, mehr als das — es ist ein wertvoller selbständiger Beitrag zur Geschichte und Historiographie der südslavischen epischen Dichtung. Kravcov betrachtet die Entstehung und das Leben der Epen im Lichte der sozialen Problematik und zollt somit den gebührenden Tribut sowohl der soziologischen Tradition der russischen Bylinenforschung, als auch der spezifischen Einstellung der heutigen Sovjetwissenschaft. Wir erwarten mit Interesse die weiteren in Aussicht gestellten Bücher dieser Reihe — die „Bulgarische Volkslyrik" sowie die „West- und südslavischen Märchen".
       Verstehen wir unter slavischer Sprachkunde in der Sovjetunion das Studium nicht der ausländischen, sondern der heimischen Sprachen der Union, so wird auch in diesem Falle festzustellen sein, daß die Ernte der letzten Jahre keine allzu erfreuliche ist. Die aktuellen und grundlegenden Aufgaben der Erforschung der ostslavischen Sprachen bleiben unerfüllt: neuer Studien und neuer Beleuchtung bedürfen die Grammatik und der Wortschatz der Gegenwart, die Sprachengeschichte — die innere und die äußere, die Sprachgeographie, die Stilistik. Die Fülle der unerforschten Denkmäler und Mundarten hemmt auch weiterhin die synthetische Arbeit.
       In die slavische Sprachkunde gehören jedoch nicht nur Vergangenheit und Gegenwart der slavischen Sprachen, sondern auch die Fragen ihrer unmittelbaren Zukunft. Sprachkunde ist
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nicht nur Rekonstruktion des vorhandenen Materials, sondern auch Sprachaufbau. Und in dem Maße, wie der soziale Aufbau einen immer planmäßigeren und zielstrebigeren Charakter annimmt, wie in den Kreis der Planwirtschaft eine immer größere Anzahl sozialer Wertsysteme einbezogen  wird, ist natürlich auch im Leben des Sprachsystems die Produktionsanarchie  dazu verurteilt, Schritt für Schritt vor dem Plan und der Regulierung zu weichen. Freilich darf man sich diese Steigerung der Zielbewußtheit im Leben der Sprache nicht als mechanistische geradlinige Entwicklung denken. Die Revolutionsepoche in Rußland hat nicht wenig Wehre, Schranken und Zensuren aller Art fortgeschwemmt. Die herrschenden Schichten de Imperiums besaßen das Monopol auf die russische Hochkultur. Das Hauptwerkzeug dieser Kultur, die russische Schriftsprache, war ihr uneingeschränkter Besitz. Indem die Revolution die herrschende Klasse wegfegte, erweiterte sie gründlich den Kreis der Besitzer der russischen Kultur und namentlich der russischen Schriftsprache. Die bunte Zusammensetzung und die ungenügende, beschleunigte Vorbereitung dieser neuen Träger der Kultur, der abhanden gekommene Begriff der guten, musterhaften Gesellschaft, d. h. jener Gesellschaft, die einst in konkreten Fragen der Sprachkultur tonangebend war, — all das sind bezeichnende Begleiterscheinungen der Demokratisierung der Kulturwerte, und je stürmischer und umfassender dieser Demokratisierungsprozeß ist, desto entschiedener wirkt er sich in der Zerrüttung der Sprachnorm und in der  allgemeinen Verflachung der Sprachkultur — in der Vulgarisierun  der Sprache — aus. Die Hochblüte verschiedener geschlossener Gruppen und Vereinigungen, als da sind Parteizellen, Komsomol, Gewerkschaften, Sportvereine, führt unvermeidlich zur Entwicklung diverser Sondersprachen, und so ergießt sich in die Schriftsprache ein breiter Strom von bunten Argotismen, untermischt mit aufdringlichen Vulgarismen, mit Provinzialismen aus den verschiedensten Gegenden und mit Elementen der mannigfaltigen Eingeborenensprachen. Zahlreiche neue Begriffe erforderten neue Benennungen, nicht genug damit — öfters ruft die veränderte Beziehung zu alten Begriffen ebenfalls neue Benennungen hervor, in der Hitze des Revolutionsgefechtes nehmen Etiketten rasch eine affektive (meistens pejorative) Färbung an, es entsteht ein Bedarf an neuen, neutralen Termini, kurzum, die Nachfrage nach „Funkelnagelneuem" hört nicht auf, es werden nicht nur neue Wörter, sondern sogar neue,  beschleunigte Methoden zur
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Bildung neuer Wörter gebildet (ein charakteristisches Beispiel sind die Sovjet-,,Abkürzungen"). Das schmerzlose Eindringen dieser zugewanderten und neugeborenen Wörter wurde durch die Politik der offenen Tür begünstigt, die seit jeher für die russische Schriftsprache kennzeichnend war, durch ihre herkömmliche Duldsamkeit gegen Fremd- und Neuwörter und durch ihre erbliche demokratische Haltung, die in der Literatur der ,,Narodniki" ihren äußersten Ausdruck fand. Die Stabilität der Schriftnorm war von diesem Liberalismus nicht bedroht, solange die russische Schriftsprache von einer dünnen Oberschicht der Nation bedient wurde und solange das Leben der Sprache durch die soziale Kontrolle der führenden Gesellschaftsschicht geregelt werden konnte. Diese beiden Voraussetzungen gingen in der Revolution verloren.
       Die russische Vorkriegsdichtung (teilweise bereits die Symbolisten und folgerichtig die Futuristen) machte die Lostrennung von der Sprachtradition, den „Haß gegen den hergebrachten Sprachbestand" zu ihrem Leitsatz. Die willkürliche Verletzung der vorhandenen lexikalischen, phraseologischen und syntaktischen Schablonen, die schon dem russischen dichterischen 19. Jh. aufs genaueste vertraut war, wurde im Schaffen der maßgebenden Schriftsteller unseres Jahrhunderts, als da sind Andrej Belyj, Chlebnikov und gewissermaßen Majakovskij, zum entblößten Kunstgriff. Kühne Wagnisse und Normverletzungen sind wirksam, wenn ein klarer, unerschütterlicher Sprachkanon vorhanden ist, der dem Dichter sowohl wie dem Leser gleich wahrnehmbar ist, aber in einer Zeit des revolutionären Erdrutsches der Norm verlieren sie ihre Stoßkraft. Es verwischt sich die Grenze, wie dies die Schriftstellerin Sejfullina offen gestand, zwischen verfeinertem Experimentieren und verwegener Maskierung der eigenen dichterischen Ratlosigkeit.
       „In vielen Büchern tummelt sich nach Herzenslust jegliche sprachliche Albernheit", grämt sich ein Dorfkorrespondent der „Krestjanskaja gazeta". Es schien, die Hochflut des Wortes würde kein Ende nehmen, und niemand habe die erforderliche Erfahrung, den Scharfblick, die Schlagfertigkeit und Autorität, um der außer Rand und Band geratenen Naturgewalt durch entschlossene Maßnahmen Einhalt zu gebieten. Das Zurückbleiben der russischen Sprachwissenschaft hinter den praktischen Tagesaufgaben erstrangiger Wichtigkeit wurde bereits von der Moskauer Presse verzeichnet. Die ersten, denen die Unhaltbarkeit der sprachlichen Zustände aufgefallen ist, waren nicht die Theoretiker, sondern die
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Praktiker der Sprachkultur — die russischen Schriftsteller und in erster Reihe Maksim Gor'kij, der in den Zeitungen eine großzügige Sprachdiskussion eingeleitet hat. „Die russische Sprache", warnte Gor'kij, ,,wird entstellt, vulgarisiert, ihre klaren Formen werden aufgedunsen, indem sie lokale Redensarten aufsaugt und Wörter aus dem Wortschatz der nationalen Minderheiten, aus dem Gebiete der Produktionsprozesse, aus Büchern usw. in sich aufnimmt. Der Schriftsteller muß Russisch schreiben, nicht aber V'atisch oder Balachnisch. Ihr schreibt für die Menschen eines gewaltigen mannigfaltigen Landes. Um einander rascher und besser zu verstehen, müssen diese Menschen ein und dieselbe Sprache sprechen". Eines der aktuellsten Schlagworte des Sovjet-lebens — ,,der Kampf um die Qualität" — wurde somit auch auf die Sprachwirtschaft ausgedehnt.
       In der politischen sowohl wie in der Fachpresse hat Gor'kijs Anregung einen starken Widerhall gefunden. Die literarischen Zeitungen Moskaus und Leningrads eröffneten eine spezielle Diskussion, wobei die Grundparole aufgestellt wurde: ,,Die Stoßaufgabe ist die Selektion der Sprache, d. h. die künstliche planmäßige Zuchtwahl in dem elementaren Prozesse, der sich gegenwärtig in unserer Sprache vollzieht." Die Literarhistoriker belehren heute in tendenziöser Weise die Zeitgenossen, daß selbst der vorbildliche Puskin die Grundaufgabe des Schriftstellers nicht darin erblickte, neue Wörter zu erfinden, sondern darin, aus dem vorhandenen gedruckten und mündlichen Wortschatz die notwendigen Wörter, Redensarten und Wendungen auszuwählen.
       Zur Grundlage der Zuchtwahl wird das Prinzip der folgerichtigen, strengen Einheitlichkeit der Schriftsprache gemacht — das Pfand ihrer breitesten und tiefsten Expansion und ihrer propagandistischen Möglichkeiten. „Man kann sich unmöglich darauf berufen, daß in unserem Distrikte so und so gesprochen wird — Bücher werden nicht für den einen Distrikt geschrieben", erklärt Gor'kij, und daraufhin stempelt der Sprachforscher Jakubinskij jeden Versuch, die Sprache auf Kosten von Kräh-winkelwörtchen zu erneuern, ohne Rücksicht auf die allgemeinnationale einheitliche Kultursprache, als reaktionär. „Eben an dieser Sprache und nicht an den zersplitterten Bauernmundarten ist das Proletariat interessiert." „Die Sprache muß die Gewähr dafür bieten, daß jede noch so komplizierte Idee in die breitesten Massen, bis zu jedem Arbeiter und Kollektivwirtschaftler vordringt" (Bolotnikov).
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Aber der populäre Charakter der Schriftsprache bedeutet keineswegs ihre Rustikalisierung. Derartiges wird in jeder Weise abgelehnt. Das „volkskundliche Verhältnis" zum Worte ist verpönt. Der Linguist Ščerba zieht gegen jene Eiferer ins Feld, die den Bauern „wie im Leben" reden lassen, und stellt ihrem naiven Naturalismus den klassischen Realismus eines Tolstoj und eines Gor'kij entgegen, die mit Abweichungen von der Schriftsprache sparsam umgehen. Einer der unmittelbaren Anlässe zur ganzen Sprachdiskussion war eigentlich die Begeisterung gewesen, die der Schriftsteller Serafimovic der Sprache des Schriftstellers Panferov entgegenbrachte — ihrer „ungelenken, gesunden, bäurischen Wucht". Es folgte eine empörte Erwiderung Gor'kijs, diese bäurische Wucht sei eine sozial ungesunde Kraft. Diese These kam zur rechten Zeit und löste eine Flut von zustimmenden Äußerungen aus. Besonders treffend kommentiert die Diskussion ein Brief der Arbeiter der Stalingrader Traktorwerke: „Wir glauben, daß die „bäurische Wucht", wie viele unsere Schriftsteller sie sehen möchten, ihrem Ende entgegengeht. Unser Kollektivwirtschaftsdorf wird unter der Führung der Arbeiterklasse diese anarchistische Kraft einer organisierten Tätigkeit unterwerfen. Ausdrücke wie čavo, taper', pakel’, mit denen viele Schriftsteller heute mit Vorliebe ihre Werke schmücken, schwinden allmählich dahin, diese Ausdrücke sind für den heutigen Kollektivwirtschaftler nicht mehr typisch. Wer sich für die „bäurische Wucht" einsetzt, wer vom Wortschatz der nahen und doch so entfernten Vergangenheit lebt, ist ein Mensch, der sich von unserer merkwürdigen Wirklichkeit losgetrennt hat. Wir sind für die Reinheit der russischen Sprache… Wir sind ernstlich entschlossen, die russische Sprache, ihre Syntax und Grammatik zu studieren. Die Ergebnisse lassen sich bereits merken. Unsere Genossen treten jetzt mit größerer Vorsicht und Verantwortungsgefühl an die Wahl der Ausdrücke, an die Verwertung jedes Wortes, an den Satzbau im ganzen heran."
       Vor unseren Augen entrollt sich eine interessanteste kulturhistorische Erscheinung: die vorderen Reihen des russischen Stadt- und Dorfproletariats lösen bewußt die Bande der volkstümlichen Muttersprache, die territorial und funktional allzusehr beschränkt ist, und streben mit Elementargewalt danach, das Erbe, das ihnen von den herrschenden Klassen der nahen Vergangenheit zugefallen ist, möglichst rasch und voll in Besitz zu nehmen. Das sind schon keine feindlichen Zitadellen mehr, die
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zerstört werden müssen (man hört bereits Spötteleien über die „falschen Neuerer" und „kleinbürgerlichen Revolutionäre", die da verlangen, das Proletariat möge die Normen der Sprachtätigkeit zerbrechen), das ist nunmehr eigenes Gut, das erkannt, gepflegt und vermehrt werden muß. Von den Klassikern wird das Klassenodium aufgehoben, und für ihre ideologische Harmlosigkeit wird eine Lanze gebrochen. „Sollt ihr auch euren Turgenev ausgezeichnet kennen und ihn nachzuahmen trachten", sagte Bundesobmann Kalinin zu den jungen Bauernschriftstellern, „so vergeßt nicht, daß wir die Epoche Turgenevs weit hinter uns haben. Zurück in das leibeigene Rußland wird euch Turgenev nicht verschleppen… Aber seine Meisterschaft muß und kann verwendet werden. Die Klassiker sind für euch die erste Stufe".
       Es entsteht eine Theorie der Gemeingültigkeit des klassischen Erbes. „Das ist die echte Schriftsprache", predigt Gor'kij, „und obschon sie aus der Umgangssprache der werktätigen Massen geschöpft wurde, unterscheidet sie sich kraß von ihrem Urquell, weil sie sich der beschreibenden Darstellung bedient und aus dem Sprachelement alles Zufällige, Zeitweilige und Unhaltbare, Launenhafte, lautlich Entstellte, aus verschiedenen Gründen mit dem eigentlichen, Geist', d. h. mit der Bauart der allgemeinen Stammessprache nicht Übereinstimmende ausscheidet." Beim Vorherrschen der Tendenz zu einer klassenlosen Gesellschaft wird auch die russische Sprache als klassenlos, allgemeinnational aufgefaßt. Aber ihre Bestimmung ist eine noch breitere. Der hervorragende Schriftsteller Aleksej Tolstoj, der gemeinsam mit Gor'kij gegen die Überbleibsel der rohen, verkrusteten Dorfrede in der russischen Hochsprache und für den Aufbau einer wissenschaftlichen Sprachkultur kämpft, geht von der Voraussetzung aus: „die russische Sprache muß eine Weltsprache werden, und nicht fern ist die Zeit, da sie unter allen Breitengraden des Erdballes gelernt werden wird".
       Allseitige Popularisierung des klassischen Erbes, seine Annäherung an den zeitgenössischen Massenverbraucher und Produzenten von Sprachwerten — das ist die Kampfaufgabe, die den russischen Literatur- und Sprachforschern gestellt ist. Die Wortkultur des vergangenen Jahrhunderts ist ein derart aktuelles, gangbares Thema geworden, daß der Schriftsteller Panferov, das erste Opfer der Sprachdiskussion, darüber wehklagt, die Sprache der Revolution sei aus dem Blickfelde der Kritiker, die lieber Betrachtungen über die Sprache der Klassiker anstellen,
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gänzlich herausgefallen. Gor'kij wirbt für „das herrliche Erbe: das reiche Sprachmaterial der Narodniki, den Wortschatz solch eigenartiger Stilisten wie Herzen, Nekrasov, Turgenev, Saltykov, Leskov, Gl. Uspenskij, Gechov". Kalinin empfiehlt neben Turgenev Puskin, Gogol', ja selbst die akademische „Fregatte Pallas" von Gončarov. „Langweilig, sagt ihr? So leset vom Standpunkt der Sprache, der Form ..." Lev Tolstoj wird von Kalinin bezichtigt, die Sprache übermäßig vereinfacht zu haben, doch, meint er, könne man auch von ihm vieles lernen. Die Revue „Literaturnaja uceba" fordert auf, von der antiken Dichtung, vom Klassizismus, von Goethe, von Puskin, vom verfeinerten Bat'uskov, von den Realisten die Exaktheit der Sprachform zu lernen. Die realistische Auffassung des Wortes wird als eine strenge Nachprüfung seiner Beziehung zur bezeichneten Wirklichkeit definiert. Der Roman-tismus, Symbolismus und die darauffolgenden dichterischen Schulen werden beschuldigt, die Gegenständlichkeit des Wortes erschüttert zu haben. In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse die künstlerische Umwertung der russischen klassischen Dichtung des 18. Jhs. und die Anerkennung ihrer bedeutenden Urwüchsigkeit seitens der heutigen Literaturwissenschaft, — eine Parallele zur Anerkennung des hohen Standes der russischen Wirtschaft des 18. Jhs. in der neuen russischen historischen Wissenschaft.
       Das kulturelle Erbe beschränkt sich aber nicht auf zwei Jahrhunderte. Gor'kij nimmt unter seinen Schutz die kirchen-slavischen Elemente der russischen Schriftsprache, weil sie die Sprachkultur heben und bereichern, und verurteilt die Unkenntnis der Meisterwerke der vorpetrinischen Literatur, z. B. der Lebensgeschichte Avvakums. Kalinin rechnet es dem Dichter Demjan Bednyj als besonderes Verdienst an, daß er in seinem Sprachstudium bis zu den altrussischen Heiligenlegenden hinausgeht und alte Kirchenbücher sammelt.
       Einen Ehrenplatz im kulturellen Erbe nimmt die russische Volksdichtung ein. Zur Aneignung der Reichtümer der Folklorsprache fordert die „Literaturnaja gazeta" auf, indem sie das Fazit der Sprachdiskussion zieht. Eine unversiegbare Quelle der Sprachkultur nennt das Volkslied, die Byline und das Märchen auch die „Literaturnaja učeba". Wie diese Schlagworte mit dem Feldzug gegen das lokale Dorfelement in der Sprache ins Gleichgewicht bringen? Gor'kij wurde auch in diesem Falle von seinem feinen linguistischen Gefühl nicht im Stiche gelassen — von jenem
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Gefühl, das ihm auch die richtige phonologische Lösung der Frage der Assimilierung von Fremdwörtern eingegeben hatte. Er hat richtig auf den interdialektischen Charakter der Volksdichtung hingewiesen, die Provinzialismen und rein örtliche Ausdrücke meidet, die aus der reinen Sprache aufgebaut wird und mit einer breiten Expansion rechnet. Dieses Interdialektische des Folklore ist ein Ergebnis der kollektiven Selektion und entspricht dem zwischenklassenmäßigen Charakter des Folklore. Genetisch eng mit dem Schaffen der herrschenden Klassen verbunden, zieht seinerseits das Folklore die Literatur groß. „Das Folklore", betont P. Stepanov in der ,Lit. učeba', „ist eine ausgezeichnete sprachliche Grundlage für den Dichter. Nicht umsonst greifen Puškin, Nekrasov, Aleksej Tolstoj fortwährend auf die Volksdichtung zurück". Die untrennbare Verbindung zwischen Schrifttum und Volksdichtung vom Igorliede an bis zur Sovjetlyrik ist eine kennzeichnende Eigentümlichkeit der russischen Literaturgeschichte.
       Bei aller Eigenartigkeit des sozialen Inhalts der russischen Revolution könnte man auch in der Entwicklung anderer Länder in der Nachkriegszeit gleichstrebige Erscheinungen finden, freilich in anderem Maßstab und Tempo, in anderer Reihenfolge und lokaler Färbung. Wenn wir z. B. bei aller Verschiedenheit der politischen Ideologie des Prager Slavisten M. Weingart von der Weltanschauung Gor'kijs und Kalinins zwischen der Haltung der letzteren in der Sprachdiskussion und dem soeben erschienenen Buche Weingarts, „Český jazyk v přitomnosti", auffallende Übereinstimmungen erblicken, so erklärt es sich eben durch die im Grunde gemeinsamen sozialen Voraussetzungen: der Prozeß der ungestümen Demokratisierung hat in den Kreislauf der Kulturwerte neue, untere soziale Schichten stürmisch hineinbezogen und die vor kurzem noch führende soziale Oberschicht mindestens ihrer Bedeutung entkleidet. Der Prozeß der Gärung, der Zerstörung, der Umgestaltung, der Inflation hat sich in allen sozialen Wertsystemen, darunter auch im Sprachsystem, vollzogen. Die unlängst noch gültige Norm wurde durch die Negation der Norm ersetzt, und heute ist eine dritte Etappe im Anzug — die Negation der Negation, um in der Sprache der Dialektik zu reden. Neue Schichten gelangen zur Erkenntnis, daß sie von nun an Besitzer der Hochkultur sind. Die Ideologen dieser Strömung (Gor'kij sowohl wie Weingart) brandmarken mit Leidenschaft das Eindringen der Unkultur und Gaunersprache in die Schriftsprache, sie ziehen nachdrücklich eine Grenze zwischen den Begriffen „demos" und
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„vulgus", alle beide räumen dem klassischen Erbe und der Überlieferung den ersten Platz ein, alle beide entlarven die romantische Idealisierung der Volksmundarten und alle beide halten zugleich die Bedeutung des Volksliedes für die Sprachkultur in hohen Ehren. Weingart verwirft entschieden die These, als ob „Wortschatz und Phraseologie der, bürgerlichen' cechischen Vor-kriegs-Schriftsprache ihre Ausdruckskraft dermaßen erschöpft hätten, daß sie weder zum Sprechen noch zum Schreiben zu gebrauchen sei". Ähnliche Erklärungen holt man in Rußland. Ich zitiere einen ehemaligen Arbeiter und nunmehrigen Direktor eines der größten Moskauer Werke namens Bodrov: ,,Die russische Sprache ist färben- und bilderreich, grell. Die Klassiker machten aus ihr einen vollkommenen Gebrauch; wozu dann noch herumklügeln. Wir bedienen uns ja der alten, unter dem Kapitalismus geschaffenen Maschinen: sie bedienen uns, und so mag sich der Teufel darum kümmern, daß sie kapitalistischen Ursprungs sind. Dasselbe gilt von der Literatur. Nimm alte Worte und lege in sie neuen Inhalt. Und die alte Sprache wird ausgezeichnet dem Sozialismus dienen."
       Freilich ist in Wirklichkeit eine neue Maschine der alten bei weitem vorzuziehen, es handelt sich aber nicht um den hinkenden Vergleich. Es handelt sich darum, daß Form und Bedeutung mechanistisch nicht voneinander getrennt werden dürfen! Die umsichtige Mariette Sagin'an hat richtig erkannt, daß „das Schicksal des Wortes nicht das Wort selbst, sondern der Zusammenhang bestimmt", sie hat richtig ,,den Prozeß der neuen Umdeutüng der Worte" in den Vordergrund gestellt. Ein heutiger Moskauer Leitartikel wäre einem Zeitungsleser um 1900 nicht nur seinem Inhalte, sondern auch seiner Sprache nach beinahe unverständlich. Die Umschichtungen in der Semantik der Wörter und Sätze sind derart tiefgehend, daß die Befürchtungen des Dichters Sel'vinskij, ,,die Ideologie der einen sozialen Schicht, in der sprachlichen Eigenart der anderen ausgedrückt, würde falsch klingen", vollkommen grundlos sind: die Negation kann unmöglich eine mechanische Rückkehr zum status quo ante bedeuten. Die Fachpresse verkündete bereits ,,die Notwendigkeit des Kampfes mit den Versuchen der entstellten Auslegung der Artikel von Gor'kij, nämlich mit jenen Puristen, die durch ein generelles Verbot der Wortschöpfung eine Abtötung der Sprache anstreben". Es handelt sich nicht um die Aufhebung, sondern bloß um die Regulierung der Neuerungen, um den Kampf mit der planlosen, anarchisti
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schen Willkür in der Sprachschöpfung. M. Sagin'an befürchtet eine Unterbrechung der Tradition der „großen und mächtigen russischen Sprache", die, von mannigfaltigsten lokalen und fremdsprachigen Mitteln gesättigt, wie ein Schwamm den Essig fremdartige Tatarismen eingesaugt und sie glücklich verdaut hat. Der Flußlauf wird jedoch von einer Schleuse nicht unterbrochen, sondern nur zweckmäßig ausgenützt, meinen die Befürworter der Planwirtschaft in der Sprache und verweisen auf Hegel, der die Freiheit als Selbstbegrenzung deutet.
       Die Sprachdiskussion hat die verschiedensten Kreise der russischen Gesellschaft mitgerissen, sie hat die dringendsten Probleme der Sprache zum Gegenstand einer lebhaften Erörterung gemacht. Das Verständnis für sprachkulturelle Fragen stieg beträchtlich, das Interesse für sie wurde rege. Die nächste Etappe dürfte ihre systematische, konkrete, praktische Bearbeitung sein. Die Bedeutung dieser Diskussion geht jedoch über die Grenzen der russischen Sprache hinaus. Sie hat auch in den literarischen Kreisen der entferntesten Sovjetrepubliken einen Widerhall gefunden. Ihre methodologische Bedeutung ist vor allem für das kulturelle Leben der ukrainischen und weißrussischen Sprache wichtig, bei aller Besonderheit ihrer historischen Voraussetzungen.
       Die ukrainische und weißrussische Schriftsprachen fristeten im Rahmen des zaristischen Rußland ein elendes, schweres, nahezu illegales Dasein. Die Revolution hat mit einem Male alle künstlichen Dämme und Zwangsmaßnahmen aufgehoben, die die Entwicklung beider südwestlichen Zweige der ostslavischen Sprachwelt hemmten. Mehr als das, sie hat diese beiden Sprachen, ähnlich wie die anderen, vor kurzem noch von der Zensur nicht anerkannten oder wenigstens einer wütenden Zensur unterstellten Sprachen des gewesenen russischen Imperiums, in eine besonders günstige, bevorzugte Lage gestellt. Es sei darauf hingewiesen, daß in den weißrussischen Städten der Analphabetismus unter der Bevölkerung im Alter bis 50 Jahren und in den Dörfern bis 45 Jahren vollständig getilgt ist und daß die Zahl der weißrussischen Bücher, die jährlich vom Weißrussischen Staatsverlag herausgegeben werden, mehr als ums Zehnfache die Gesamtzahl der Publikationen übersteigen, die vor der Revolution in weißrussischer Sprache erschienen sind.
       Es ist kein Wunder, daß in der ukrainischen und weißrussischen Aufbauarbeit, die sich erst vor kurzem vom zaristischen
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Druck erholte, in der ersten Zeit öfters ein starker Hang zur Lostrennung von der russischen Kultur und namentlich von der russischen Sprache zum Ausdruck kam. Der großmächtige russische Chauvinismus fand seine dialektische Antithese in den lokalen Chauvinismen, namentlich im ukrainischen und weißrussischen kulturellen Separatismus. Jedem unvoreingenommenen Beobachter des Sovjetaufbaues war es aber klar, daß diese zentrifugalen Strömungen seinem Pathos durchaus fremd sind und folglich scheitern müssen, da die nationale Grenzziehung in der Union nicht dazu vorgenommen wird, um das eine Volk vom anderen zu trennen, sondern im Gegenteil, um sie enger aneinander zu fügen und um ihr kulturelles Wachstum zu beschleunigen. In den breitesten Gesellschaftskreisen Weißrußlands und der Ukraine begann ein heftiger Kampf gegen die Schädlingsarbeit der weißrussischen, ukrainischen und russischen Chauvinisten, die zwischen den genannten Völkern des Sovjetlandes künstliche Barrieren errichten wollten. Dieser Kampf fand allgemeinen Beifall und gab Anlaß zu einer Reihe neuer planmäßiger Maßnahmen auf dem Gebiete der Sprachkultur. Entschieden wurden alle Schritte verurteilt, die zur Provinziaiisierung und Absonderung der weißrussischen und ukrainischen Sprachkultur und zu ihrer Lostrennung von der russischen Kultur führten. Folgerichtig entlarvt wurde die Beweisführung all jener Theoretiker, die um die einzelnen slavischen Sprachen der Union chinesische Mauern errichten wollten. Zwecks gegenseitiger Annäherung der nationalen Kulturen dieser drei eng verwandten Völker wurde beschlossen, die Fragen der Rechtschreibung, der wissenschaftlichen und technischen Terminologie, der Wörterbücher und der grammatikalischen Lehrbücher einer Revision zu unterziehen.
       Der weißrussische Nationaldichter Jakub Kolas hat einsichtsvoll die Fragen der Rechtschreibung unter den Gesichtspunkt ihrer sozialen Funktionen gestellt und die Forderung nach ihrer Verständlichkeit für die Vertreter verschiedener Mundarten hervorgehoben. Die ersten konkreten Maßnahmen sind bereits verwirklicht. Der Gebrauch der Anfangsbuchstaben ist unifiziert und ein gemeinsames System der Interpunktion ist gebildet. Die Frage der Internationalisierung der Grundlagen der Interpunktion wurde nach der Anregung des schwedischen Sprachforschers Lindroth auf den jüngsten internationalen Linguistenkongressen lebhaft erörtert, und der vorerwähnte Versuch ist der erste praktische Schritt in dieser Richtung. Ein wesentlicher Erfolg ist eben-
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falls die Vereinheitlichung der Wiedergabe der Fremdwörter in der Rechtschreibung aller drei Sprachen. In den Grundlagen der Transkription dieser Wörter kam der nämliche gesunde Vorrang des funktionalen Gesichtspunktes über den genetischen zum Ausdruck, der für die Wissenschaft der UdSSR überhaupt und namentlich für den Kampf gegen chauvinistische Abweichungen (z. B. in der Frage der Ukrainisierung des Nordkaukasus) kennzeichnend ist.
       Höchst belehrend ist in den Arbeiten der Teilnehmer der neuesten Reform der Rechtschreibung, des Weißrussen A. Alek-sandrovic und des Ukrainers A. Ghvyl'a, die Entlarvung der chauvinistischen Beweggründe ihrer Vorgänger, die von allem Gebrauch machten — von den mundartlichen Archaismen (z. B. Diphthonge der südwestlichen Mundarten des Weißrussischen), von lateinischen Buchstaben, — nur um eine größtmögliche Unähnlichkeit mit der russischen Schrift zu erreichen. Aleksandrovic hat recht, indem er in den Plänen der Latinisierung der weißrussischen Schrift „die höchste Stufe der gegenrevolutionären Tätigkeit" erblickt, da eine derartige Reform erstens die weißrussischen Massen auf lange hinaus in einen Zustand des vollständigen oder teilweisen Analphabetismus versetzt und zweitens einen verhängnisvollen Abgrund zwischen der weißrussischen und russischen Kultur geschaffen hätte.
       Überhaupt läßt sich in der Frage der Latinisierung ein bemerkenswerter Stimmungsumschwung in der Sovjetöffentlichkeit beobachten. Unter dem Zarismus und dessen kolonisatorischer Russifizierungspolitik verwandelte sich das russische Alphabet in den Augen der nationalen Minderheiten in ein verhaßtes Symbol der Unterdrücker. Diese Gedankenverbindung überlebte die ersten Revolutionsereignisse, und das kulturelle Erwachen der nationalen Minderheiten stand daher in vielen Fällen, namentlich bei den Völkern der moslimischen Tradition, in einer engen Beziehung zur Lateinschrift. Die Symbolik hat ein zähes Leben, letzten Endes verlöschen aber auch Symbole. Und schon sind in der amtlichen Moskauer „Pravda" neue Schlagworte aufgetaucht: „Es ist unbegreiflich, warum diejenigen, die sich für die Beibehaltung des für die jakutische Sprache bereits vorhandenen, mit dem russischen gemeinsamen Alphabets aussprechen, Nationalisten und Chauvinisten seien, während diejenigen, die für die Annäherung an das Alphabet der Franzosen und Italiener kämpfen, als Internationalisten gelten. Das Gerede über den Missionscharakter des russischen
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Alphabets wird unter den Verhältnissen der proletarischen Diktatur zu einem unsinnigen Geschwätz . . . Wer und wozu hat es nötig, daß die Lateinschrift eine internationale Schrift werden soll? Welche Vorzüge hat das lateinische Alphabet vor dem russischen, in dem gewaltige Kulturwerte des Sovjetlandes geschaffen sind?... Und wäre es nicht einfacher, beispielsweise für das Schrifttum der Völkerschaften unseres Nordens das russische Alphabet als Grundlage zu nehmen, um den Werktätigen dieser Völkerschaften die Besitzergreifung vom Schrifttum der beiden Sprachen, der heimischen und der russischen, zu erleichtern?" (3. Februar 1934). Bei der Ausarbeitung eines Alphabets für die Völker der UdSSR ist „öfters das russische Alphabet verwendbarer und als Grundlage des neuen Schrifttums besser angebracht als das lateinische. Und darin ist keine Spur von Gegenrevolution, darin ist kein Fußbreit Zurückweichens vom Internationalismus. In der Tat, ist denn grundsätzlich das lateinische Alphabet irgendwie mehr international als das russische, dessen sich ein' bedeutender Teil der Werktätigen der UdSSR, der Vorhut der internationalen sozialistischen Revolution, bedient?" (17. Februar 1934). Der Krieg dem russischen Alphabet wird hier geradeheraus zum „schädlichsten Unsinn, der einer objektiv gegenrevolutionären Grundlage nicht entbehrt", erklärt, weil das eines der kennzeichnenden Schlagworte der chauvinistischen Reaktion ist, die in Kulturfragen und namentlich in den Fragen der Sprache und des Schrifttums die Forderung aufstellte, sich um jeden Preis nach Westen zu orientieren. Die Frage ist klar, zugespitzt und grundsätzlich richtig gestellt. Gegen die generelle Latinisierung sprechen wirtschaftliche Gründe sowohl wie die Interessen einer breiten und spontanen Aufklärung der Massen, schließlich auch die charakteristischen Lauteigentümlichkeiten des Großteils der Sprachen der Union (z. B. der Gegensatz der weichen und harten Konsonanten, der höchst unvollkommen und unpraktisch von der Lateinschrift wiedergegeben wird). Was die Latinisierung einzelner Völker der Union anlangt, so ist es zwecklos, erstens die kleinen Völker und zweitens die Völker nahverwandter Sprachen von den nachbarlichen Kulturquellen abzuschneiden.
       Die ukrainische Rechtschreibung bedurfte keiner wesentlichen Änderungen, bedeutend radikaler ist die durchgeführte Reform der weißrussischen Rechtschreibung. Es wurde eine Reihe unsinniger orthographischer Kniffe beseitigt, deren einziges Ziel die Herbeiführung einer künstlichen Entfremdung zwischen der weiß-
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russischen und russischen Schrift war. Vor der Reform wurde z. B. die Weichheit eines Konsonanten vor einem darauffolgenden weichen Konsonanten eigens bezeichnet, obwohl diese Weichheit eine äußerlich bedingte ist und folglich zur Unterscheidung der Wortbedeutungen nicht dienen kann. Die einzige Daseinsberechtigung dieser Orthographie lag in der Maskierung der nahen Verwandtschaft zwischen dem weiß- und großrussischen Lautbau: das Wort svel wird z. B. in beiden Sprachen gleich ausgesprochen (s'ü'ei), geschrieben wurde es aber verschieden. Neben grundsätzlichen Vorteilen brachte hier die Reform, wie dies schon Z. B'adul'a verzeichnete, eine nicht geringe Ersparnis an Satz und Schrift. Die Reform steht auf einem festen, methodologisch einwandfreien Unterbau, freilich aber ist das, wie die Reformatoren selber betonen, nur der erste Schritt, auf den weitere Vervollkommnungen folgen werden. Der Ausgangspunkt der Reform ist der, daß man die Einheitlichkeit dei* methodologischen Schriftgrundsätze hinsichtlich der verwandten und ähnlichen Sprachen anstreben müsse — gleiche Sprachstrukturen müssen nach Möglichkeit durch identische orthographische Mittel wiedergegeben werden. Diese Regel ist nicht neu: sie liegt ebenfalls der Arbeit an der Schaffung und Koordinierung der Alphabete für die türkischen Sprachen der UdSSR zugrunde.
       Immerhin sind auch in der heutigen weißrussischen Rechtschreibung, um einen Ausdruck des weißrussischen Satirikers Krapiva zu gebrauchen, Spuren von ,,irredentistischen Pockennarben" geblieben. Von den beiden Zeichen für den Laut i hat die russische Schrift nach der Revolution den Buchstaben i abgeschafft und den Buchstaben u verallgemeinert, umgekehrt bedient sich die weißrussische Schrift für die Wiedergabe des gleichen Lautes des Buchstabens i. Diese lediglich orthographische Verschiedenheit hat keinen Sinn, sie erschwert nur zwecklos den breiten Kreisen der weißrussischen Leser die Lektüre der russischen Bücher und den russischen Lesern — die Kenntnis der vielversprechenden weißrussischen Literatur.
       Außer des unseligen schülerhaften Entwurfes der Latinisierung der jakutischen Schrift gibt kein einziges orthographisches System durch verschiedene Zeichen äußerlich bedingte, kombinatorische Varianten eines Phonems wieder. Diese Varianten spielen keine differenzierende Rolle, ihre Verschiedenheit ist funktionslos. Die Schrift ist streng funktional, das ist ein System von Zeichen, die der Unterscheidung der Bedeutungen dienen,
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darin liegt sein grundsätzlicher, notwendiger Unterschied von der phonetischen Transkription, die die kleinsten Lautschattierungen festzuhalten bestrebt ist. Ein besonderes Zeichen der weißrussischen Schrift zur Wiedergabe des unsilbigen u ist ein orthographisches Monstrum, ein Produkt der unzulässigen Verwechslung zwischen Schrift und phonetischer Transkription: das unsilbige u und v sind im Weißrussischen kombinatorische Varianten des einen Phonems, — vor einem Vokal wird es als v realisiert, unter anderen Verhältnissen als unsilbiges u. Die ukrainische Rechtschreibung gibt vernünftigerweise beide äußerlich bedingten Varianten durch den Buchstaben v wieder, den gleichen Weg hätte auch die weißrussische Schrift gehen sollen.
       Die russische wie die ukrainische Rechtschreibung folgen dem einen Grundprinzip — sie sind bestrebt, die Einheitlichkeit des Morphems in der Schrift zu erhalten. Dieses Prinzip, wie wir es aus der Psychologie wissen, erleichtert bedeutend den Prozeß des Lesens und Schreibens, sowie das Erlernen des Lesens und Schreibens. Die weißrussische Rechtschreibung verletzt dieses Prinzip in gröblicher Weise. Um die Einheitlichkeit des Morphems in der Schrift zu erhalten, verzichtet die russische Rechtschreibung mit Recht auf die Wiedergabe der kombinatorischen Veränderungen der unbetonten Vokale und geht folgerichtig vom betonten Vokalismus aus. Russisch schreibt man z. B. voda, weißrussisch aber vada, obwohl der unbetonte Vokal in diesem Fall in der russischen Hochsprache dem Laut a viel näher als in der Mehrzahl der weißrussischen Mundarten ist. Die Reform der weißrussischen Rechtschreibung hatte teilweise von der Wiedergabe der kombinatorischen Veränderungen der unbetonten Konsonanten abgesehen, ohne jedoch die erforderliche Folgerichtigkeit an den Tag gelegt zu haben. Die weichen Korrelate der Konsonanten t und d werden im Weißrussischen als c' und dz' realisiert. Die Silbenpaare ty-ti, dy-di wird der Weißrusse als ty-ci, dy-dzi lesen, weil V und d' in seiner Sprache fehlen. Wozu dann diese Assibilation in der Schrift wiedergeben und dadurch die Morphemeinheit maskieren, das Lesen weißrussischer Texte durch Russen und Ukrainer erschweren und durch die Anwendung der Gruppe dz' statt d' unnötige Mehrausgaben verursachen?
       All diese kritischen Bemerkungen verfolgen lediglich das Ziel, die Wissenschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit der weißrussischen Schrift zu heben  und die künstlichen orthographischen
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Barrieren zwischen den drei slavischen Völkern der Sovjetunion zu beseitigen, ohne dabei die phonologische Eigenart der weißrussischen Sprache auch im Geringsten zu schädigen.
       Ein Mittel zur vorsätzlichen gegenseitigen Entfremdung der einzelnen slavischen Völker der UdSSR war die künstliche Absonderung ihrer wissenschaftlichen und technischen Terminologie gewesen. Infolge dieser unseligen Entfremdungsarbeiten wurde die russische wissenschaftliche Literatur den breiten Kreisen der jungen weißrussischen und ukrainischen Leser fast unzugänglich, und, umgekehrt, war der Einflußkreis der beträchtlichen Errungenschaften der ukrainischen und weißrussischen Wissenschaft auf den engen nationalen Rahmen beschränkt. Sonderausschüsse der Ukrainischen und Weißrussischen Akademien der Wissenschaften bemühten sich mit einem Eifer, der eine bessere Verwendung verdiente, aus der heimischen Terminologie alle Termini auszumerzen, die aus dem Russischen entlehnt waren, obwohl diese Wörter längst in der Ukraine und in Weißrußland tiefe Wurzeln geschlagen hatten. Mehr als das, sie schafften auch Termini ab, die, ohne aus dem Russischen entlehnt zu sein, in irgendeiner Weise an die entsprechenden russischen Bezeichnungen erinnerten. In Ungnade fielen auch Termini, die ins Russische aus der ukrainischen Tradition, die in Moskau im 17. und im Anfang des 18. Jhs. herrschte, eingegangen sind. Für Begriffe, die im Russischen durch internationale, etwa lateinische Termini wiedergegeben werden, wurden hausbackene Wörter erfunden, und zwar unter dem Vorwand, daß „diese Termini keine Internationalismen, sondern Europäismen sind, dem Ukrainischen aber steht es keinesfalls an, an europäischer Beschränktheit zu kranken" (weißrussische Wörterbücher ersetzten durch eigenes Machwerk selbst Wörter, wie absolut, Architekt, Automobil, Internationale, Kollektiv, Kommunismus, Periode, Proletariat, Revolution). Hatte sich aber im Russischen ein heimischer Terminus eingebürgert, so wurde ad hoc eine umgekehrte Theorie herbeigezogen: „Die ukrainische Sprache, die ukrainische Kultur sind europäisch, daher können und müssen sie sich in ihrer Entwicklung nach Europa orientieren." Schwerfällige, nichtsnutzige und dem Uneingeweihten wenig verständliche Neologismen wurden geschaffen; die Puristen rodeten Russismen aus und spickten an deren Stelle das Wörterbuch mit Polonismen, Bohemismen, Germanismen; schließlich wurden Volkswörter in neuer, ungewohnter terminologischer Bedeutung aufgetischt — aber die duftigen Wörtchen wollten sich
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nicht fügen, sie hatten keine Lust, richtiggehende abstrakte Termini zu werden und auf ihren Gefühlsbeisinn oder auf ihre dorfmäßig-alltägliche Färbung zu verzichten. So wurden beispielsweise im Weißrussischen Namen der Dorfgeräte gleichzeitig als Termini der Fabrikindustrie verwendet.
       Ein Ausweg aus dieser Sackgasse war der Beschluß über die Unifizierung der wissenschaftlichen und technischen Terminologie der Völker der Sovjetunion. Die Arbeit ist begonnen, und unter diesem Gesichtspunkt sind schon beispielsweise in der Ukraine die folgenden terminologischen Wörterbücher revidiert worden: das praktische Wörterbuch der Produktionsterminologie, die Wörterbücher für Botanik, Landwirtschaft, Biologie, Physik, Zoologie, Mathematik, Nationalökonomie, Chemie, Geographie, Bergbau, Verkehr, Medizin und Geschichte.
       Der erbitterte Zweikampf zwischen zwei Weltanschauungen beschränkte sich nicht auf das Gebiet der Terminologie, er erfaßte den gesamten Wortschatz. Ein Sprachforscher, der den Wortschatz der heutigen ukrainischen Prosaschriftsteller und Dichter mit dem vollständigsten ukrainischen Wörterbuche der Vorkriegszeit zu vergleichen versuchte, mußte zum Ergebnis gelangen, daß Hrincenkos Wörterbuch auch nicht 50 Prozent der Wörter enthält. Und wie viele Wörter haben überdies ihre Bedeutung geändert. Noch großzügiger ist die Umwälzung, die sich nach der Revolution im Leben der weißrussischen Schriftsprache vollzogen hat. Im raschen Tempo überwinden beide Sprachen ihre einstige provinzielle Abgeschiedenheit. Ein mächtiger Hebel ist in dieser Hinsicht die reichhaltige Übersetzungsliteratur der letzten Jahre: Klassiker und Zeitgenossen, Prosaschriftsteller und Lyriker, westliche und russische Autoren. Die rasche Urbanisierung der beiden Republiken, der quantitative und qualitative Aufschwung des ukrainischen und weißrussischen Proletariats, der rege Wechselverkehr zwischen einzelnen Teilen der Union, — all das sind Umstände, die von vornherein alle archaisatorischen Versuche an der Sprachfront zum Mißerfolg verurteilen. Was können sie dem mächtigen Andrang der Gegenwart entgegenstellen? Die archivalischen Vorräte des altukrainischen bzw. des weißrussischen Schrifttums? Oder die literarischen Anfänge des vergangenen Jahrhunderts, die, mögen sie auch überaus glänzend gewesen sein, wie etwa die Dichtung Sevcenkos, dennoch immer im allgemeinen Anfänge bleiben? Oder am Ende „die ursprüngliche Einfachheit
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und Frische der Bauern-, Handwerker- und Fischerrede", die den Führer der weißrussischen ArchaisLen, den Sprachforscher Nekrasevic, begeistert?
       Die einen Archaisten haben die kulturelle Entwicklung der Gegenwart einfach verschlafen, die anderen waren vorsätzlich bestrebt, die Bewegung nach rückwärts umzuleiten. Sie waren bereit, die abgestorbenen herrschaftlichen kulturellen Einflüsse der vergangenen Jahrhunderte den heutigen demokratischen kulturellen Einwirkungen vorzuziehen, Polonismen waren ihnen lieber als Russismen. Den Russismen erklärten sie den unversöhnlichen Krieg und verbannten grimmig nicht nur wirkliche Entlehnungen aus dem Russischen, sondern auch autochthone weißrussische Wörter, Wendungen und syntaktische Verbindungen, die auffällig den russischen ähnelten; derartige Wörter strichen sie in den Wörterbüchern, derartige Formen — in den Lehrbüchern der Grammatik. Beispiele gibt es nicht wenig. So empfahl z. B. der weißrussische Lexikograph Lastovski, diejenigen Wörter zu meiden, die ihrer Bedeutung und ihrer Lautzusammensetzung nach mit den russischen identisch sind[1]. Ähnliches finden wir in den „Abrissen aus der ukrainischen Syntax" von S. Smerecyns'kyj, wo selbst Formen der Wortverbindung, die das Ukrainische an das Russische annähern, unter Zweifel gestellt werden.
       Die Sprache, die von den Archaisten erdacht wird, ist eine Flickfleckdecke aus Museumsraritäten, Neubildungen nach alter Art, mundartlichen Seltenheiten und ununterbrochenen Polonismen. „Wir kennen diese fremde Sprache nicht", reagieren die Kinder in einer ukrainischen Humoreske auf einen derartigen antiquarischen Volapük. Die heutigen Führer des ukrainischen öffentlichen Lebens antworten aber auf den zwecklosen Kampf der Archaisten gegen das Gespenst der „Moskalismen": „Es gibt kein Moskau mehr, kein altes vorrevolutionäres Gefängnis der Nationen des zaristischen Rußland. Es gibt ein neues Moskau — einen Mittelpunkt der Union der sozialistischen Sovjetrepubliken, einen Mittelpunkt der Anziehung der fortschrittlichen Menschheit, ein Symbol des Kampfes um die endgültige Ausrottung der Knechtschaft" (aus einer Rede Postysevs im Dezember 1933). Diesen kulturpolitischen  Standpunkt hat schon im  Jahre  1927
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Majakovskij im Gedichte ,,An unsere Jugend" genau und scharfsichtig entworfen. Statt der Sprachpolitik der Archaisien, einer Politik der Zwietracht zwischen Brudervölkern, wird enge sprachliche und kulturelle Annäherung und Wechselseiligkeit verkündet, die jedoch keineswegs die Eigenart der nationalen Form antastet.
       
Synonyme differenzieren und bereichern die Sprache, und das vom ukrainischen sprachwissenschaftlichen Institut neulich vorbereitete Wörterbuch der Synonyme interessiert sich in erster Reihe bereits nicht für ihre Genealogie, sondern für die Funktionen dieser Synonyme in der Sprachganzheit. Es bedarf keiner Vorbehalte, daß Wörter allgemeiner Verbreitung von einer Literatur für den breiten Bedarf vor rein lokalen oder im Absterben begriffenen Wörtchen vorgezogen werden. In der Frage der dialektischen grammatikalischen Doppelformen, die in die schriftsprachliche Norm als gleichberechtigte Varianten zugelassen waren, wurde nun der grundsätzlich richtige Gesichtspunkt festgelegt, daß „diese Parallelismen in vielen Fällen die Schriftsprache nur überladen und ihre normale Entwicklung hemmen". Es wurde eine entsprechende Unifizierung vorgenommen, namentlich wurden dabei Provinzialismen beseitigt, die, die ukrainische Schriftsprache künstlich von der russischen trennten", entsprechend werden auch archaische Dubletten abgeschafft und als einzig normativ die gangbarsten Formen anerkannt[2].
       Die Revolutionsepoche, die ursprünglich die Norm der russischen Hochsprache zerrüttete, hat letzten Endes die Forderung nach einem einheitlichen und allgemein gültigen Sprachkanon aufgestellt, und zwar mit einer unbeugsamen Entschlossenheit und Beharrlichkeit, die den vorhergehenden Entwicklungsetappen, die sich durch liberale Dehnbarkeit und Flüssigkeit der Sprachnorm auszeichneten, vollkommen fremd war. Die gleiche Epoche, die erst die zentrifugalen Kräfte der ukrainischen und weißrussischen Sprache entfesselte, hat in der Folge vollkommen neue Methoden der Übereinstimmung der drei ostslavischen Hochsprachen der Sovjetunion gefunden, Methoden, die sowohl den wissenschaftlichen Forderungen der modernen Linguistik als auch den Interessen des nationalen Kulturaufschwungs sowie den Aufgaben der wahrhaften internationalen Zusammenarbeit ent-
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sprechen. Bei aller Verschiedenheit des sozialen Gehalts der großen französischen Revolution und ihrer Kulturpolitik entdecken wir in ihrer Sprachgeschichte ein analoges dialektisches Verfahren, das bereits von Ferdinand Brunot in seiner Geschichte der französischen Sprache während der Revolutionszeit betont wird: der ursprüngliche Prozeß der hemmungslosen Zerstäubung wandelte sich kraft der Schaffung eines Gemeinschaftsgeistes in einen Prozeß des engsten Zusammenschlusses um.



[1] So wurde das seinem Ursprünge nach gemeinslavische Verbum havaryc' wegen dem entsprechenden russischen govorit' aus dem weißrussischen Wörterbuch gestrichen und durch die Onomatopöie z'uz'ukac' u. ä. ersetzt.

[2] So werden z. B. die Doppelformen babiv, vidomostiv, soncevi, try musi, dvi slovi, vedu pionerky in der ukrainischen schriftsprachlichen Norm zugunsten der Formen bab, vidomostej, sonc'u, try muchy, dva slova, vedu pionerok abgeschafft.