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Centre de recherches en histoire et épistémologie comparée de la linguistique d'Europe centrale et orientale (CRECLECO) / Université de Lausanne // Научно-исследовательский центр по истории и сравнительной эпистемологии языкознания центральной и восточной Европы

-- Victor Klemperer (Dresden) : «Idealistische Philologie», Idealistische Philologie, Jahrbuch in sechs zweimonatlichen Heften, herausgegeben von Victor Klemperer (Dresden) & Eugen Lerch (München), 1. Heft, Band III, April 1927, S. 1-4.

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        Titel von Büchern und Zeitschriften sind ankündigende Aussagen. „Michael Kramer": diese Dichtung soll das Schicksal des Menschen Michael Kramer behandeln; „Zeitschrift für Altertumskunde": diese Zeitschrift soll Stoffe aus dem Gebiet der Altertumskunde bringen. Leicht, und ohne daß sich zwischen beiden Titelarten eine feste Grenze ziehen ließe, fließt in die rein sachliche Aussage etwas Bekennerhaftes ein. Titel wie „Sozialistische Monatshefte" sind zu gleichen Teilen Aussagen und Bekenntnisse. Bisweilen drängt sich das Bekenntnis heftig und aggressiv vor: „Vorwärts", „Die Fackel". Bisweilen liegt der Nachdruck auf der Verletzung oder Verhöhnung des Gegners; eine kleine Zeitschrift der französischen Symbolisten, die in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts um Anerkennung rangen,, nannte sich La Cravache. Wenn sich kriegerischer Sinn mit Trotz und erbittertem Minoritätsgefühl verbindet, so kommt es wohl zu Titeigebungen, die eine Identifikation mit dem von der befehdeten Mehrheit Verspotteten oder Mißachteten ausdrücken. Man nennt sein Blatt „Simplicissimus" oder „Don Quijote" oder „Sancho Panza" oder „Thersites", oder den „armen Konrad". Zu solchen geusenhaften Bezeichnungen gehört freilich wenig Mut und einige Unbescheidenheit, denn man identifiziert sich auf diese Weise doch mit Gestalten, die ein dichterischer und historischer Glanz umgibt. Wesentlich mutiger finde ich es schon, wenn sich in jener Kampfzeit der Symbolisten ein anderes Blatt der Jungen Le Decadent[1] nannte; denn damals war dicadent ein Pejorativ, dem es an historischem Glanz noch fehlte.
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        In welche der angegebenen Rubriken gehört nun meine Titel-gebung „Idealistische Philologie"? Ich muß schon sagen: „meine Titelgebung", denn ich habe ihr nur schwer das widerwillige Einverständnis Eugen Lerchs gewinnen können und habe sie sehr gegen das bedenkliche Kopfschütteln so verehrter Freunde und getreuer Ratgeber wie Max Fuchs und Max Kuttner in Berlin zu verteidigen gehabt. In die erste, ganz objektive und ganz unkriegerische Kategorie der Aussagetitel gehört sie und nirgends anders hin. Ihre Ungeschicklichkeit und Gefahr aber liegt offenbar darin, daß sie einer anderen Rubrik zugerechnet werden kann. Du glaubst den Idealismus für dich gepachtet zu haben und auf die andern als auf ungeistige Menschen hinabsehen zu dürfen! kann man mir entgegenhalten. Und noch etwas Fataleres kann man mir sagen: du machst dich lächerlich, indem du etwas ganz Allgemeingültiges, etwas ganz Triviales und Abgedroschenes als Sonderbezeichnung wählst. Idealisten sind wir alle, insofern wir einer Wissenschaft und also einer geistigen Angelegenheit dienen.
        Dennoch muß ich bei meiner „idealistischen Philologie" beharren und will das begründen. Der Titel hat nun schon eine langjährige Geschichte (und, in Parenthese gesagt, selbst wenn ich ihn lassen wollte, er ließe mich nicht mehr, denn es ist gar so billig ihn anzugreifen). Im Anfang war Voßlers „Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft" eine Kampfschrift, wie sie 1904 not tat. In betonter Anlehnung hieran folgte 1922 unsere Festschrift für unsern Lehrer als „Idealistische Neuphilologie". Daß ich Titel und Vorwort im „romanisch warmen Superlativ" hielt, habe ich damals ausdrücklich gesagt, und im zweiten Jahrgang unseres „Jahrbuches für Philologie" bin ich darauf zurückgekommen und auf die Zitierungskünste, denen mein festliches Vorwort im bittern Alltag ausgesetzt war. Zwischen diesem zweiten Jahrgang (1927) und jener Festschrift liegt der erste Band des „Jahrbuches für Philologie" (1925). Hier haben wir (und wieder war ich der Veranlassende und Formu. lierende) im Vorwort auseinandergesetzt, weswegen wir den Titel „Idealistische Philologie" nicht in den Alltag tragen wollten. Aber das half uns gar nichts, denn er wurde uns nachgetragen und nachgeworfen.
        Ist es jetzt ein Gefühl zugleich der Unentrinnbarkeit und des Trotzes, was mich den alten Titel aufgreifen und nun doch in
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den Alltag stellen läßt, in dem Augenblick, wo wir unser Jahrbuch in eine Heftfolge zerlegen? Bestimmt nein. Ein Gefühl der Rancune wäre ein schlechter Ausgangspunkt für die Betitelung einer wissenschaftlichen Zeitschrift.
        Aber ich habe inzwischen die Überzeugung gewonnen, daß dieser Titel mitten in den Alltag hineingehört, und daß er eine Notwendigkeit bedeutet und keine Herausforderung und keine Trivialität.
        Idealistische Philologie ist eine solche, die einem Ideellen zustrebt, d. h., die im Sprachkörper das Geistige sucht, und die das Einzelne um des Ganzen willen erforscht. Es sollte keine andere Philologie geben, und idealistische Philologie müßte ein Unsinn sein wie „nächtliche Nacht". Und jeder, der ernsthaft arbeitet, und wenn er einen Folioband über den Punkt auf dem epentheti-schen i schreibt, ist idealistischer Philologe, sofern er sich nur eines geistigen Zieles und einer anzustrebenden Ganzheit bewußt bleibt. Aber es geht heute mit dem Idealismus in unserer Wissenschaft wie etwa mit dem Ausdruck der Rührung im allgemeinen Leben. Sowenig es sich schickt, ein fühlendes Herz zu zeigen und gar eine Träne, irgendwie Wertherisch daherzukommen, sowenig schickt es sich für den Philologen, einen philosophischen Grund und Zusammenhang für etwas zu suchen und gar eine Synthese zu wagen. Verpöntes Wort, feuilletonistisches Wort, unphilologisches Wort! Das Wort steht für die Sache; wer seine Exaktheit beweisen will, weicht ihr aus.
        Noch einmal: man kann idealistischer Philologe an kleinstem Einzelstoff sein. Und muß ich es hinzusetzen? Man wird auch als idealistischer Philologe nicht und als solcher erst recht nicht den Einzelstoff und die Analyse vernachlässigen dürfen. Nur bewußt bleiben muß man sich immer dessen, wozu die Analyse und das Einzelne dienen. Und der Titel „idealistische Philologie" soll es ständig ins Gedächtnis rufen. Er ist noch nicht trivial genug, daß man ihn entbehren könnte.
        Damit ist denn auch ausgedrückt, daß dieser Zeitschrifttitel kein Parteititel und kein Kampfruf ist. Jede Arbeit, welcher Schule auch immer, hat hier Platz, sofern sie nur jenes Bewußtseins nicht entbehrt oder ausdrücklich entbehren will. Unter den einzelnen Beiträgern soll durchaus Freiheit herrschen. Lerch ist in manchen Dingen nicht meiner Meinung, und ich unterschreibe nicht jeden seiner Sätze; dennoch sind wir uns in jenem Wesent-
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lichsten einig, und deshalb gehen wir zusammen. Und so - hier darf ich zum Plural greifen — so möchten wir in unserer Zeitschrift mit jedem Philologen zusammengehen, dem der Idealismus, dem ein geistiges Ziel Selbstverständlichkeit bedeutet. Das ist die einfache Aussage, die dieser Titel enthält.



[1] Nach André Barre, Le Symbolisme, Paris 1911, S. 67 sq.