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Centre de recherches en histoire et épistémologie comparée de la linguistique d'Europe centrale et orientale (CRECLECO) / Université de Lausanne // Научно-исследовательский центр по истории и сравнительной эпистемологии языкознания центральной и восточной Европы


-- Karl VOSSLER : Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg : Carl Winter's Universitätsbuchhandlung, 1925.

Inhaltsübersicht

 

 

 

Seite

I.

Voraussetzungen und Erfahrungen

1

II.

Sprechen, Gespräch und Sprache

6

III.

Sprache und Religion

23

IV.

Ein Beispiel. Neue Denkformen im Vulgärlatein

56

V.

Sprache und Natur

83

VI.

Sprache und Leben

109

VII.

Die sprachlichen Gemeinschaften

118

 

a) Metaphysische und empirische Sprachgemeinschaft

118

 

b) Die Nationalaprache als erlebte Sprache

127

 

c) Sprache und Nationalgefühl

130

 

d) Die Nationalsprachen als Stile

148

 

e) Sprachgemeinschaft als Interessengemeinschaft

176

 

f) Sprachgemeinschaft als Gesinnungsgemeinschaft

193

VIII.

Sprache und Wissenschaft

220

IX.

Sprache und Dichtung

241

 

Register

262

 

[119]
                      Ausschließlich „menschlich" im geselligen Verstande des Wortes aber ist in Wahrheit keine einzige Sprachgemeinschaft. In jede wird durch die anthropiomorphe Phantasiegewalt unseres Sprechens ein Stück Umwelt, ja sogar die ganze Welt hereingezogen und zum Mitsprechen gebracht. In jeder spielt die Natur, die Welt, die Gottheit, nicht nur als Gegenstand, über den gesprochen wird, sondern als mitsprechendes Subjekt eine Rolle.

                   La nature est un temple où de vivants piliers
                   Laissent parfois sortir de confuses paroles;
                   L'homme y passe à travers des forets de symboles,
                   Qui l'observent avec des regards familiers...,

         sagt Baudelaire.1 

[123 s.]
                   Durch die spezifisch sprachliche Mühe und Arbeit, durch Anpassung der Werkzeuge an den sprachlichen Gedanken, mag es nun die artikulierende Zungenübung eines Kindes oder die Meisterschaft eines Künstlers oder Redners sein, kurz, durch das erworbene Können unterscheiden sich die empirischen Sprachgemeinschaften von der metaphysischen. Zu dieser letzteren gehören wir ohne weiteres alle als fühlende, hingebende, religiöse, ästhetische Wesen. Es bedarf hier keiner Ausübung; die innerliche Geistesarbeit genügt Ein stimmungsvoller, schwärmerisch-mystischer und phantastischer Anfhropomörphismus genügt, am mit dem Weltall uns eins zu fühlen. Und das, was man seine unendliche Sprache nennen könnte, zu ahnen. In die empirische Sprach-' gemeinschaft der Deutschen aber hat nur, wer deutsch kann, Zutritt, in die der Schriftsprachen nur, wer in. ihnten schreiben und lesen kann, in die der Musik nur, wer Gehör und musikalische Bildung hat; und je größer »nd sicherer das spezifische Können und die entsprechenden Leistungen des Einzelnen innerhalb einer solchen Sprachgemeinschaft, desto unangefochtener seine Zugehörigkeit, desto führender seine Stellung in ihr.

[126 s.]
        Darum ist die mechanisch kausale Forschung, die sich an die gefahrbringende Starrheit der Materialien klammert, die Sprachwerkzeuge, die einzelnen Laute und Schrift-Zeichen, die „selbständigen" Wort- und Satzformen in ihrem körperhaften Sonderdasein untersucht, methodisch ebenso sicher und ungefährlich, wie innerlich ziellos, während die deutende und idealisierende Betrachtung, je zielstrebiger sie nach einem einheitlichen Sprachsinn sucht, desto gefährlicher wird. Sie bedarf auf dem großen und langen Marsche, der aus der Vielheit und Zerstreuung der sprachlichen Erscheinungen zur Erfassung der Einheit des sprachlichen Geistes führen soll, der isolierenden, mechanisierenden und positivistischen Sprachbetrachtung als Vorhut und Nachtrab. Das Gros muß sie freilich selbst bilden.

                   In der heutigen Sprachwissenschaft haben wir zwar viele und gut geschulte Flankier und treffliche positivistische Sprachvergleicher zur Seitendeckung, auch schwerbeladene Bagagewagen in unserer Mitte — aber das Gros?

[128]
             Freilich wird der Zusammenhang zwischen National-charakter, Gemütsart und Sprache von den meisten Sprachforschern noch bezweifelt oder als wissenschaftlich unbeweisbar dahingestellt. Es handelt sich in der Tat auch nicht um natürliche, nicht einmal um geschichtliche Kausalzusammenhänge, sondern um ein phänomenologisches Verhältnis, Die französische Sprache, d. h. die von den; Franzosen getroffene Instrumentierung des sprachlichen Denkens, ist kein Ergebnis, keine irgendwie vermittelte Folge ihrer Gemütsart oder ihres Nationalcharakters.

                   Es gibt zwischen diesem und jenem Faktor keinen Weg, keine ursächliche Kette, keine Vermittlung, weil es keine Entfernung, keine Spannung zwischen ihnen gibt, weil sie eine nnd dieselbe Sache sind. Die Franzosen sprechen nicht deshalb französisch, weil sie franzosische Gesinnung, Gemütsart, Charakteranlage haben, sondern lediglich deshalb, weil sie sprechen. Ihre Sprache wird durch nichts Fremdes, nur durch sie selbst "zu einer französischen; und durch ihr Sprechen, was, immer und wie immer es sei, wird ihr Nationalcharakter in di& Erscheinung getrieben und zU jener Wirklichkeit gebracht, die man französische Sprache nennt.

[130 s.]
                   So hängt an der nationalen Sprache das nationale! Gefühl und pendelt zwischen Liebe und Stolz. Die Wertschätzung, die wir der Sprache unserer Nation entgegenbringen, ist unser Nationalgefühl, und zwar unser ganzes, ungeschmälertes, ungeteiltes, allseitiges nationales Fühlen, aber zugespitzt auf die Sprache allein.

                   Verweilen wir zunächst bei diesem Punkt, als dem augenfälligsten, wo die Gemütsart eines Volkes mit seinem sprachlichen Gehaben zusammentrifft und jene Einheit in Erscheinung tritt, an der die zünftige Sprachforschung zu zweifeln liebt.

 

         c) Sprache und Nationalgefühl.

                   Wenn heute ein Grieche oder Römer des Altertums oder ein Christenmensch des Mittelalters in das Jammertal dieser Gegenwart herabstiege und hören und sehen könnte,

                   wie wir nicht bloß um Macht und Gut und Geld uns zer-1 fleischen, sondern sogar um der Sprachen willen, die in diesem oder jenem Grenzland herrschen sollen: was würden die Vorfahren unserer Kultur für Augen machen!

                   Sprachliche Kämpfe, Verordnungen, Verbote, wie wir sie in Elsaß-Lothingen, in Belgien, in Schleswig-Holstein, in Polen, in Böhmen, in Tirol erlebt haben, um' nur dap Nächste zu nennen, das um Deutschland her liegt, dergleichen gab es früher nicht. In Neapel z. B. hat die ganze' Zeit der römischen Weltherrschaft hindurch die griechische Sprache unangefochten dauern dürfen. Griechische Inschriften reichen dort bis in das siebente Jahrhundert n. Chr. herab. Wenn die Imperatoren auf Besuch kamen, fügten sie sich gerne dem griechischen. Lebensstil des Landes. Kaiser Claudius ließ sich griechische Schauspiele daselbst vorrühren. Ahnliches wissen wir aus anderen Küstenstädten des südlichen Italien. Im Senat zu Syraküs hat Cicero als römischer Beamter griechisch gesprochen, und wenn ihm das seine Landsleute verübelten, so geschah es aus einem richtigen Gefühl für römische Würde, keineswegs aus sprachlicher Unduldsamkeit. Nie haben die Römer die Landessprachen der von ihnen eroberten Gebiete angefeindet. Offenbar waren sie nicht so kindlich und kindisch verliebt in ihre Muttersprache, wie die heutigen Nationen, fühlten aber um 8ö sicherer, stolzer und unbekümmerter ihre kulturelle Überlegenheit. Nachdem, mit rücksichtsloser Gewalt in Spanien und in Gallien die Herrschaft des römischen Gesetzes einmal eingerichtet war, ließ man friedlich, allmählich und wie von selbst die Herrschaft der lateinischen Sprache über die Länder sich ergießen. Darum ist das Iberische in Spanien, das Keltische in Gallien eines natürlichen und sanften Todes gestorben. Kein Widersprach, keine Klage hat sich, so viel wir wissen, erhoben. 

 

[132 s.]
Haben denn aber die alten Iberer und Gallier, die so leicht und rasch das Latein sich gefallen ließen, nicht auch ihr Stammesbewußtsein und ihren Nationalstolz gehabt? Gewiß, doch war's eine einfachere Art Stolz: zwar derb, handfest, rassig und von triebhafter Leidenschaftlichkeit, aber eben darum ein geistloser Stolz. War er einmal mit Waffengewalt gebrochen, so lag er am Boden, unfähig eines tieferen Widerstandes und geistigen Rückhaltes.   Die Sprache aber ist etwas Geistiges. Ein entwaffneter Iberer oder Gallier konnte höchstens noch persönliche Eitelkeit keinen nationalen Stolz mehr aufbringen. Und eben die Eitelkeit trieb ihn, die Sprache seines Siegers zu erlernen, mit lateinischer Redekunst sich zu schmücken und der Muttersprache als einer Kinderei sich zu schämen. Die selbstgefälligsten und wortfreudigsten Meister lateinischer Beredsamkeit sind bald nicht mehr in Italien, sondern in Spanien und Gallien gewachsen: Seneca, Lucan, Martial, C. Cornelius Gallus, Ausonius u. a.

                   Da wir heute zumeist nur Nationalsprachen um uns sehen, sind wir gewöhnt, Nationalität und Sprache als unauflöslich miteinander verwachsen za. denken. Wenn man im kaiserlichen Österreich Erhebungen über die Nationalität der Einwohner anstellte, so hielt man sich an die Sprache; es gab in der Tat kein anderes zuverlässiges Kennzeichen. Wer deutsch sprach, d. h. sich zum. Deutschen als seiner gewohnheitsmäßigen Sprache bekannte, gehörte dem deutschen Volkstum zu; wer Italienisch oder Polnisch angab, wurde als Italiener oder Pole im nationalen — nicht im staatlichen — Sinne gebucht In zweifelhaften Fällen verhält es sich mit der Nationalsprache, wie mit einer Konfession : man bekennt sie — man kann' sie also auch wechseln. Es ist natürlich, d. h. natur geschichtlich, aber nicht natnr gesetzlich, daß die Sprache uns zu Nationen verbindet.

 

[137]
             Nicht überall und nicht zu allen Zeiten erscheint freilich das sprachliche Heimats- und Ehrgefühl so empfindlich, so wachsam und eifersüchtig, wie heute in Europa. Die Italiener waren die Ersten, die Deutschen die Letzten, die Franzosen aber die Erpichtesten bei seiner Alarmiemng; während die östlichen Randvölker, ihrer kulturellen Halbwüchsigkeit gemäß, noch heute die Flegelhaftesten sind.

[144 s.]
Gerade von Dante, dem Weltbürger, stammt der erste Versuch einer wissenschaftlichen und künstlerischen Würdigung der italienischen Sprache: das De vulgari eloquentia.

                   Weltbürger in der Tat mußte man sein, um zu einer so weitschauenden, großzügigen und philosophischen Ansicht des Wesens einer Nationalsprache zu gelangen. Von allen Philologen der Renaissance und der französischen Aufklämng hat keiner den Tiefsinn der Danteschen Schrift wieder erreichen können. Erst in den Tagen der Romantik, als die große Reaktion gegen den romanischen Formalismus und Intellektualismus einsetzte, haben deutsche Denker und Gelehrte eine wirklich philosophische Auffassung und kritische Erforschung der Sprache ins Lieben gerufen. Hier reifen und bewähren sich die Früchte unseres üniversalismus. Die ganze moderne Sprachwissenschaft ist eine wesentlich und beinahe ausschließlich deutsche Schöpfung: Herder, Wilhelm von Humboldt, die Brüder Schlegel, die Brüder Grimm, Bopp, Schleicher, Diez, und wie sie alle heißen, haben mit ihren philosophischen, historischen und grammatischen Forschungen die deutsche Art, sich zur Sprache des eigenen Volkes und der fremden Völker zu stellen, herausgearbeitet und zur Geltung gebracht. Sie haben die sprachliche Verwandtschaft der europäischen und indischen Völker entdeckt und haben uns gewöhnt, mit gleicher Liebe die Sprachen aller Stämme und Nationen der Welt zu umfassen als eine große geistige Familie, in der jedes Glied seine berechtigte und sinnvolle Sonderart hat. Sie haben uns gelehrt, daß es eigentlich nur Eine, nur die Sprache gibt, und daß die nationalen Einzelsprachen nur Abwandlungen, nur Instrumentierungen dieser Einheit sind. Den dogmatischen Formalismus, die romanische und akademische Sprachmeisterei, die Unduldsamkeit in der Beurteilung der Sprachen haben sie überwunden. Eine reinere, verständigere, weitherzige und darum auch tiefere, weniger stolze, kindlichere Liebe zur eigenen Sprache war der schönste Lohn dieser Bemühung. Nun erst würde klar, wie jedes Volk in seiner Sprache sich seine besondere „Weltanschauung", oder besser: Weltanschauungsmöglichkeiten, ausspinnt, und wie mit ihrer Sprache und durch ihre Sprache die Nationen ihre geistigen Eigenarten in lebendiger Verwandtschaft und Wechselwirkung entfallen, und wie im Schöße der Sprachen eine Art von Vorbestünmung ruht, ein stiller Hinweis und sanfter Drang zu dieser oder jener Denkart 

[147 s.]              Wer — sei es als Einzelner, sei es als Volk — nur eigene Sprachen erleben und fremde nicht kennen will, dem verkümmert auch die eigene zum barbarischen Gestammel.

                   Starre Sprachgrenzen gibt es nicht, und wo man sie künstlich errichtet, stiften sie mehr Schaden als Schutz.

                   Heute, nachdem zu dem kultursprachlichen Nationalstolz italienischer und französischer Art die natursprachliche Eigenliebe der germanischen und slawischen Völker hinzugekommen ist, dürfte der Nationalismus in Europa seinen; Höhepunkt erreicht und vielleicht schon überschritten haben. Wenigstens hat er den Kreis semer grundsätzlichen Möglichkeiten erfallt. Die Politiker stehen nun vor der Frage, ob es weiterhin vorteilhaft ist, ein Nachbarvolk, das sich seiner Eigenart, seines Ursprungs, seiner Leistungen und Möglichkeiten, und d. h. seiner Sprache, in solchem Maße bewußt ist, wie die heutigen Völker Europas, in diesem Bewußtsein zu kränken. Da nunmehr jede Nation mit äußerster Zähigkeit an ihrer Muttersprache bangt, sind die Sprachgrenzen zwar nicht starr, aber derart stabil geworden, daß die politischen Grenzen mit ihrer spröderen Starrheit und ruckweisen Beweglichkeit, wenn sie nicht fortwährend gesprengt und zerrissen werden wollen, sich tunlichst den Sprachgrenzen; anpassen Und deren geschmeidige Ruhe nachahmen müssen.1

                   Kein anderes Volk hat so viele innere und äußere Antriebe, wie das deutsche, um für diese Sache mit seiner ganzen Kraft zu wirken, zu leiden und zu kämpfen. Der Gedanke der nationalsprachlichen Duldsamkeit, aus Liebe tmd Stolz zu der eigenen und aus Verständttis für die fremde und dennoch verwandte Geistesart geboren, ist eine Errungenschaft der deutschen Forschung. Wenn wir ihn nicht verteidigen und nicht zur praktischen Geltang bringen, wenn wir im Westen und Süden uns romanisieren, im Norden danisieren und im Osten slawisieren lassen, so ist er verloren. Von den anderen Völkern wird keines aus eigenem Bedürfnis ihn ehren.

 

 


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