Hochverehrte Anwesende!
Es war gewiß vielen von Ihnen nicht hinreichend klar, was Sie sich unter dem von mir gewählten Thema zu denken haben. Sollte hier der Mensch im Unterschied von irgend einem höheren Wesen, die „Vermenschlichung der Sprache“ also als eine Erniedrigung, als ein Herabsinken derselben gefaßt werden? Oder, im Gegenteil, sollte man im Menschen eine höhere Stufe im Vergleich mit anderen Geschöpfen, folglich in der „Vermenschlichung der Sprache“ ein Aufsteigen, eine Erhebung derselben sehen?
Um jeglichen Bedenken von vorn herein vorzubeugen, um mich gegen jedes Mißverständnis und jede Mißdeutung zu verwahren, möchte ich jetzt gleich die vorläufige Erklärung geben, daß ich mich nur in den Grenzen der Beobachtung und der kritisch beglaubigten, historischen Überlieferung bewege; und von diesem Standpunkt aus wissen wir von keinem höheren, dem Menschen überlegenen Wesen, welches ihm qualitativ ähnlich wäre und sich von ihm nur quantitativ, nur graduell unterschiede.
Dafür aber kennen wir viele Arten und Gattungen von lebenden tierischen Wesen, welche in mehr denn einer Hinsicht bloß als eine frühere Stufe der im Menschen zur vollen Entfaltung gelangten Entwicklung betrachtet werden können.
Zu den hier in Betracht kommenden Punkten gehört auch namentlich alles das, was mit dem sprachlichen Leben und Wesen im Zusammenhang steht. Wir können auch bei einigen höher organisierten Tieren Anfänge der Sprache bemerken, wenigstens Laute, die für diese Tiere einen gewissen Sinn haben, d. h. von ihnen zum Zweck gegenseitiger Verständigung hervorgebracht werden.
Das ist eine durch eine unanfechtbare Beobachtung gewonnene Tatsache.
Es frägt sich aber: Kann man denn nicht zwischen der wirklich menschlichen Sprache und zwischen dem, was als die der Sprache korrespondierende Funktion der Tiere betrachtet werden darf, einen wesentlichen Unterschied konstatieren? Diese Frage muß bejahend beantwortet werden.
Abgesehen schon von dem großen Reichtum der zur menschlichen Sprache gehörenden Elemente und von der geringen Anzahl der tierischen bedeutsamen Laute, bestehen ja zwischen beiden Arten der lautlichen Verständigung erhebliche Unterschiede, und zwar ebenso von der rein äußerlichen Seite, von der Seite der dabei beteiligten Sprachorgane, wie auch von der inneren Seite, von der Seite der Assoziation lautlicher Gebilde mit den ihnen entsprechenden Bedeutungen.
Wenden wir uns zuerst zu der sogenannten äußeren Seite der Sprache, zum Lautieren, zum Aussprechen.
Um die in diesem Gebiet vorkommenden historischen Veränderungen richtig begreifen zu können, müssen wir uns vor allem eine klare Vorstellung darüber machen, wie wir äußerlich sprechen, d. h. wie wir aussprechen.
Es sind keine besonderen anatomisch-physiologischen Kenntnisse nötig, um sich von der Art und Weise unseres äußeren Sprechens, unserer Aussprache eine annähernd richtige Vorstellung zu bilden.
An der Hervorbringung bedeutsamer Laute des Menschen, wie auch des Tieres, beteiligen sich folgende Organe unseres Körpers:
1. der Brustkasten, welcher die zur Schallerzeugung nötige Luft aus den Lungen auspreßt,
2. der Kehlkopf, in welchem sieh die für die Bildung musikalischer Klänge der Sprache so wichtigen Stimmbänder befinden,
3. die Nasenhöhle oder genauer Nasenhöhlen, zu denen der Zugang vom Schlund aus mit Hilfe des Gaumensegels entweder abgeschlossen oder wieder geöffnet werden kann,
4. die Mundhöhle mit allen ihren beweglichen Organen und unbeweglichen Stellen oder Flächen.
Mann kann also die ganze zur Schallerzeugung während des Sprechens dienende Werkstätte in zwei Hauptgebiete teilen: in das vertikal, von unten nach oben verlaufende untere Gebiet, von der unteren Grenze des Brustkastens bis an die Zungenwurzel und den hinteren Eingang in die Nasenhöhlen, und dann in das horizontal, von hinten nachvorn verlaufende obere, welches seinerseits in zwei übereinander liegende Unterabteilungen zerfällt, in die von der Zungenwurzel bis an die Lippen sich erstreckende untere, d. h. die Mundhöhle, und in die obere Unterabteilung, die Nasenhöhlen.
Das für das menschliche Sprechen bei weitem wichtigste Gebiet der lautlichen Sprachbildung ist die Mundhöhle, und zwar wegen ihrer Ausrüstung mit den zur Differenzierung der Laute so geeigneten beweglichen, elastischen Organen.
Unter diesen elastischen, beweglichen Organen ist das Gaumensegel oder der weiche Gaumen samt seinem Zäpfchen (uvula) das am weitesten zurückliegende. An der entgegengesetzten Grenze der Mundhöhle finden wir die Lippen als ihr vorderstes bewegliches Organ.
In der Mitte der Mundhöhle sehen wir das biegsamste und das wichtigste von allen beweglichen Sprachorganen, die Zunge, welche ebenso mit ihren Rändern, wie auch mit ihrem Rücken wirken kann, an welchem letzteren man drei Hauptgebiete unterscheidet: die vordere, die mittlere und die hintere Zunge.
Als die zur Schallerzeugung dienenden unbeweglichen Stellen der Mundhöhle sind zu nennen: der in weitere Unterabteilungen sich teilende harte Gaumen mit seinen Ausläufern, dem oberen Kiefer und den oberen Zähnen, dann die Unterzähne und schließlich gewissermaßen die obere Lippe.
Wie schon erwähnt, sind die Lippen das am meisten nach vorn vorgeschobene Artikulationsorgan der Mundhöhle; ihnen folgt die Vorderzunge, dann die Mittelzunge, die Hinterzunge und schließlich das am weitesten nach hinten liegende Gaumensegel samt seinem Zäpfehen. Wenn man wieder die ganze Mundhöhle nebst den Nasenhöhlen dem Kehlkopf gegenüberstellt, so liegt dieser letztere unten und hinten, die zwei anderen Hohlräume aber oben und vorn. – Auf diese Unterschiede und Gegensätze der oberen und unteren Lage einerseits und der vorderen und hinteren Lage andererseits bitte ich besonders zu achten, da sie für die Frage von der Vermenschlichung der Sprache von hervorragendster Wichtigkeit sind.
Auch bei den höher organisierten Tieren, insbesondere bei den Vögeln und Säugetieren, kommt das ihnen eigentümliche bedeutungsvolle Lautieren in ähnlicher Weise wie das menschliche Sprechen zu stande. Auch die Tiere setzen gewöhnlich bei Hervorbringung ihrer Laute ihren Brustkasten in Bewegung, indem sie zu diesem Zweck ausatmen oder expirieren, respektive – in viel selteneren Fällen – einatmen oder inspirieren. Auch die Tiere bilden irgendwo auf dem Wege durch ihren Kehlkopf und ihre Mundhöhle irgend ein Hemmnis für die aus den Lungen gepreßte Luft. Auch bei den Tieren wirken die Mundhöhle und die Nasenhöhlen samt dem Schlunde als schallmodifizierendes Ansatzrohr.
Besteht denn aber nicht zwischen der menschlichen und der tierischen Lautbildung ein wesentlicher Unterschied? Diese Frage müssen wir bejahend beantworten, indem wir auf die zwei folgenden unterscheidenden Merkmale unsere Aufmerksamkeit richten.
Erstens sind die Hauptstätten des tierischen Lautierens in den unteren und hinteren Organen zu suchen, also vorwiegend im Kehlkopf, bei nur schwacher Beteiligung der Mundhöhle. Dann beteiligt sich an Schallerzeugung in der Regel nur die ganze Mundhöhle des Tieres als schallmodifizierendes, rezonanzbildendes Ansatzrohr. Falls aber irgend ein bewegliches Organ der Mundhöhle auch bei den Tieren schallerzeugend wirkt, so ist doch an eine Mannigfaltigkeit, an eine Unterscheidung vieler solcher schallerzeugender Arbeiten bei keinem Tier zu denken. Höchstens ein paar unbedeutende Nuancen, die im Vergleich mit der großen Fülle der in der menschlichen Mundhöhle entstehenden Lautelemente verschwindend klein erscheinen. Im menschlichen Sprechen finden wir eine große Mannigfaltigkeit der Formen und Stellungen, welche die Mundhöhle, als Hauptstätte des Sprechens, annehmen kann und wirklich annimmt, wie auch eine, wohl noch grössere, Mannigfaltigkeit der Arbeitsarten, welche von den einzelnen beweglichen Organen der Mundhöhle, wie von dem Gaumensegel, von den Lippen und vor allen von der Zunge, diesem Hauptorgan des Sprechens, ausgeübt werden. Die Lokalisation der Sprecharbeit in den einzelnen Organen und an den einzelnen Stellen der Mundhöhle ist das Hauptcharakteristikum des menschlichen Sprechens.
Das ist eins.
Dann zeichnen sich die menschlichen Laute vor allem durch die sogenannte Artikulation aus, welche, – wenn sie überhaupt einen Sinn haben und nicht als ein überflüssiges Schmuckwort gebraucht werden soll, – einerseits in der Aufeinanderfolge verschiedenartigster Übergänge aus einer Lage der Sprachorgane in die andere, andererseits aber in der Proportionalität, in einem bestimmten gegenseitigen Verhältnis der einzelnen Arbeiten des menschlichen Sprachorgans besteht. Das Wesen der sogenannten artikulierten Laute des menschlichen Sprechens läßt sich am besten durch einen Vergleich mit den sogenannten nichtartikulieten, ebenso von Tieren, wie auch vom Menschen selbst hervorgebrachten Lauten klarlegen. Diese letzteren die sog. „unartikulierten Laute“, mögen sie tierische Laute sein, wie das Brüllen, Bellen, Heulen, Wiehern, Blöken, Winseln, Miauen, Gackern, Krähen, Grunzen usw., oder selbst auch dem Menschen eigene, meistens auf dem Wege von Reflexbewegungen infolge gewisser Gefühle und Stimmungen zu stande kommende, wie das Stöhnen, Gähnen, Lachen, Kichern, Angstschrei, Schnaufen, Zischen, Schmatzen usw., alle diese und andere derartige „unartikulierte Laute“ bestehen in einer fortwährenden periodischen Wiederholung der gleichen Geräusche ohne jeglichen Übergang zu anderen Lautelementen. Sie erscheinen immer, so zu sagen, als ein beliebiger Abschnitt einer sich ins Unendliche ziehenden Linie, sie sind also ungeformt, sie sind reine, von der menschlichen Einmischung freie Naturprodukte. Die wirklichen Sprachlaute aber sind abgerundete, geformte, in ein gewisses gegenseitiges Verhältnis zu einander gesetzte, nur einer bestimmten Dauer fähige Lautelemente, es sind, so zu sagen, unbewußt geschaffene Kunstwerke der menschlichen Sprechtätigkeit.
Die Entstehung streng bestimmter, nacheinander folgender Sprachlaute und der dem Sprechen überhaupt eigenen Artikulation war ein gewaltiger Schritt, welcher das die Vorstufe zum jetzigen Menschen bildende Lebewesen, vom sprachlichen Standpunkt aus, zum wirklichen Menschen stempelte und es der übrigen Tierwelt gegenüberstellte. Das war die ursprüngliche Vermenschlichung der Sprache, welche später, in der uns zugänglichen Geschichte des Menschengeschlechtes keine wesentliche Veränderung erlitt. Der volle Mensch als solcher mußte von Anfang an artikulieren, ungefähr so, wie er jetzt artikuliert. Von dieser Seite also ist der Prozeß der Vermenschlichung mit dem ursprünglichen Menschwerden abgeschlossen.
Dieses Menschwerden aber liegt außer den Grenzen der Beobachtung und der historischen Überlieferung und ist nur wissenschaftlichen Hypothesen zugänglich. Da ich aber am Anfang meines Vortrages sagte, ich wollte mich streng an die Beobachtung und an die historische Überlieferung halten, so würde ich, falls ich mich nur mit dem Hinweis auf das vermutete, hypothetische Menschwerden begnügen sollte, mich mit mir selbst in Widerspruch stellen.
Betreten wir daher das Feld der in den historisch beglaubigten Sprachperioden wahrzunehmenden Weiterentwickelung desselben Prozesses, den ich dort „Vermenschlichung der Sprache“ nannte, und der sich auch hier cum grano salis als „Vermenschlichung der Sprache“ auffassen läßt.
Vorin aber kann dieselbe bestehen? Die Artikulationsfähigkeit im allgemeinen, als solche zeigt, wie gesagt, keine wesentlichen Veränderungen. Sie ist einmal da und bleibt als eine beständige Eigentümlichkeit des sprechenden Menschen. Die Veränderungen, also, welche als eine historische Vermenschlichung der Sprache betrachtet werden können, müssen wir wo anders suchen.
Wir haben gesehen, daß die Arbeit bei tierischer Lautbewegung sich in den unteren und rückwärts liegenden Gebieten der Sprachorgane konzentriert. Beim Menschen aber arbeiten vorwiegend die oberen und vorderen Teile des Sprechapparats. Wenn es uns also gelingt,
auch in der historischen, d. h. uns aus der Überlieferung bekannten Zeit eine Abnahme der Arbeit in unteren und hinteren Gebieten, und dementsprechend eine Zunahme der Tätigkeit in den oberen und vorderen Gebieten, also eine immer größere Entfernung von dem tierischen Zustand, nachzuweisen, dann werden wir berechtigt sein zu sagen:
Das menschliche Geschlecht begnügte sich nicht mit jenem ersten, oben vorausgesetzten, ursprünglichen Schritt, sondern es zeigt auch einen nie aufhörenden Fortschritt in der allmählichen, stufenweisen Vermenschlichung der äußeren, lautlichen Seite der Sprache.
Kann man nun in den historischen Veränderungen der lautlichen Seite der Sprache eine allmähliche Verschiebung der Artikulationsarbeiten aus den unteren und hinteren in die oberen und vorderen Gebiete der Lautbildung erkennen?
Im hinteren, vertikalen Gebiet der Sprechwerkstatt ist die tiefste, die unterste Tätigkeit diejenige des Brustkastens. Verändert sich nun diese in der Sprachgeschichte? Nimmt sie vielleicht ab, und zwar zu Gunsten irgend einer in oberen und vorderen Gebieten sich vollziehenden Arbeit? Sie verändert sich, das ist wahr, aber nicht in dem von uns hier gemeinten Sinne. Sie ist verschieden, verschiedenartig verteilt und moduliert nicht nur bei verschiedenen Individuen, sondern auch bei verschiedenen Völkern und in verschiedenen Epochen des Sprachlebens; aber von deren stufenweisen und konsequent fortschreitenden Abnahme zu Gunsten irgend einer anderen Tätigkeit kann keine Rede sein. Sie ist für jedes lautliche Sprechen unentbehrlich und kann durch keine andere Tätigkeit ersetzt werden. Sie muß also in der Sprachgeschichte gewissermaßen als eine konstante Größe betrachtet werden. Die Variablen sind wo anders zu suchen.
Ebenso müssen im oberen und vorderen, im horizontalen Hauptgebiet des menschlichen Sprechens die Nasenhöhlen aus unserer Betrachtung ausgeschlossen werden. Es gehörte ursprünglich die Benutzung der Möglichkeit, die Nase zu öffnen, oder zu schließen, auch zu sprachlichen Zwecken, d. h. zur Ausbildung nasaler und nichtnasaler Sprachlaute, – es gehörte zwar diese ursprüngliche Benutzung zum primitiven, grundlegenden Akt der Vermenschlichung der Sprache, aber in späteren Stadien der Sprachentwicklung gehören die mit der passiven Beteiligung der Nasenhöhlen verbundenen Veränderungen anderswohin und können von dem uns hier beschäftigenden Standpunkt aus nicht in Betracht kommen.
Es bleiben uns also nur zweierlei Gegensätze, welche für unsere Frage von Wichtigkeit sein können:
Erstens der Gegensatz zwischen dem Kehlkopf und der Mundhöhle im allgemeinen, und dann
die Gegensätze, welche wir in der Mundhöhle selbst zwischen ihren vorderen und hinteren Organen und Teilen bemerken.
Zunächst müssen wir einem Einwand begegnen. Wir operieren bekanntlich auch mit der Aussprache längst vergangener Zeiten wie mit bekannten Größen. Da erhebt sich leicht der Zweifel, woher wissen wir, wie es in diesen alten Zeiten ausgesprochen wurde. Hierauf müssen wir antworten, daß man eine für unsere Zwecke ausreichende Vorstellung von der Aussprache in früheren Zeiten an der Hand des Schrifttums und der sich auf das Verhältnis der Schrift zur Sprache beziehenden Überlieferung gewinnt, wobei auch die Vergleichung verwandter Sprachen untereinander uns sehr gute Dienste leistet.
Nachdem wir so dieses Bedenken gehoben haben, fangen wir nun mit dem Gegensatz der Tätigkeit des Kehlkopfs und der Mundhöhle an, und da müssen wir denn sagen, daß sich überall die Abnahme jener zu Gunsten dieser mit Entschiedenheit beobachten läßt, sei es nun bloßer Schwund der Kehlkopftätigkeit, sei es wieder eine Vertretung früherer Kehlkopfarbeit durch solche der Mundhöhle.
Eine allgemeine in diesen Bereich gehörende Tatsache ist das gänzliche oder teilweise Aufgeben der ursprünglichen Aspiraten in allen indogermanischen oder arioeuropäischen Sprachen. Der Unterschied der Aspiration und Nichtaspiration hängt bekanntlich von einer Verschiedenartigkeit in der Tätigkeit des Kehlkopfes ab: Die Aspiraten, ph, th, kh, bh, dh, gh…, werden mit einem im Kehlkopf entstehenden Hauch, in der Art von h, zusammen ausgesprochen, die unaspirierten Konsonanten aber p, t, k, b, d, g..., ohne einen solchen. Nun sehen wir, daß die alten arioeuropäischen Aspiraten bei allen späteren Arioeuropäern oder Indogermanen eine bedeutende Einschränkung erfahren.
Entweder ist die alte Aspiration spurlos verschwunden, so daß die früheren aspirierten Konsonanten mit den ihnen sonst verwandten nicht aspirierten zusammenfielen. Das ist in folgenden Sprachfamilien der arioeuropäischen Sprachenwelt der Fall: im Slawischen, im Baltischen, d. h. im Litauischen und Lettischen, im Keltischen und im Iranischen.
In anderen Sprachfamilien des arioeuropäischen Stammes wird zwar der alte Unterschied der betreffenden Konsonanten in seinem vollen Umfang bewahrt, seine unterscheidenden Merkmale aber aus dem Kehlkopf in die Mundhöhle verlegt. Zu dieser Gruppe gehören z. B. alle die uns geschichtlich überlieferten, wie auch alle jetzt existierenden Repräsentanten der germanischen Sprachenfamilie. So werden zwar noch jetzt die anlautenden Konsonanten solcher Wörter, wie einerseits „Zahn“, „ziehe“, „zwei“, „zehn“, entsprechend den lateinischen dens, duco, duo, decem, andererseits „tun“, „Tür“, verwandt mit lateini-[126] schen facio, fores, unterschieden, ihr unterscheidendes Hauptmerkmal aber ist nicht mehr in dem Gegensatz der Aspiration und Nichtaspiration, d. h. nicht in der verschiedenartigen Arbeit des Kehlkopfs, sondern in derjenigen der Mundhöhle zu suchen.
Das Altgriechische besaß noch die Aspiraten im Unterschied von den Nichtaspiraten, im Neugriechischen aber ist an die Stelle der durch den Kehlkopf zu bemerkstelligenden Unterscheidung zwischen der Aspirierung und Nichtaspirierung die in der Mundhöhle zur Geltung gelangende Unterscheidung zwischen einem Verschluß und einer Reibungsspalte getreten. So z. B. sprachen die alten Griechen theós (θεóς, „Gott“), thǖmós (θῡμóς, „Gemüt“), neben táuros (ταῠρος, „Stier“), téknon (τέκνον, „Kind“), aus, wogegen die Neugriechen. theós thimós (der Anlaut wie englisches th) und doch távros, téknon, mit demselben Anlaut wie die Altgriechen, aussprechen.
Überall also sehen wir im Bereich der Unterscheidung zwischen der Aspiration und Nichtaspiration eine allmähliche Schwächung der Kehlkopftätigkeit zu Gunsten der Tätigkeit einzelner Sprachorgane in der Mundhöhle, und dementsprechend auch die Schwächung des auf die Kehlkopftätigkeit gerichteten zentralsprachlichen Unterscheidungsvermögens.
Zu derselben Kategorie der Schwächung der Kehlkopfstätigkeit gehört die den jetzigen mitteldeutschen Mundarten (z. B. dem Sächsischen) eigene Beseitigung des Unterschiedes zwischen den tonlosen p, t, k, und den tönenden b, d, g – welcher Unterschied ja durch die verschiedene Tätigkeit der Stimmbänder des Kehlkopfs erreicht wird, – und die Ersetzung desselben durch den Unterschied von starken und schwachen, von fortes und lenes, von „harten‘ p, t, k, und „weichen“ b, d, g; und diese Unterscheidung von Stärke oder „Härte“ und Schwäche oder „Weichheit“ beruht ja nur auf einer stärkeren oder energischeren und einer schwächeren oder schlafferen Artikulation an denselben Stellen und mit denselben Organen der Mundhöhle.
Ich könnte Beispiele der in dieser Richtung vollzogenen oder sich vollziehenden lautlichen Veränderungen bedeutend vermehren, möchte aber Ihre mir wohlwollend geschenkte Aufmerksamkeit nicht mißbrauchen.
Nachdem wir die historische Verschiebung innerhalb der beiden Hauptgebiete der Sprechwerkstatt in ganz kurzen Zügen kennen gelernt haben, wollen wir die Mundhöhle selbst von der uns hier interessierenden Seite untersuchen.
Hier führt uns eine genaue Betrachtung der historischen Tatsachen zu einem ähnlichen Ergebniß, wie bei der Erforschung des Verhältnisses des Kehlkopfs und der Mundhöhle im allgemeinen. Nur geht hier, in der Mundhöhle, die historische Bewegung bei den lautlichen Verän
derungen ausschließlich von hinten nach vorn, während wir dort eine kompliziertere Richtung, von unten und hinten nach oben und vorn wahrgenommen haben.
Wenn die auf die paläontologischen Entdeckungen gestützten Schlüsse richtig sind, besaß der vorgeschichtliche Höhlenmensch keinen Kinnvorsprung, d. h, kein „mentales Tuberkel“ (tuberculum mentale), und im Zusammenhang damit befand sich seine spina mentalis interior soweit nach hinten zurück, daß die an dieselben angehefteten, die Bewegungen der Zunge, vor allem aber der vorderen Zunge regulierenden Muskeln, in erster Reihe der musculus genioglossus, verhältnismäßig kurz und unentwickelt waren; infolge dessen vermochte bei diesem vorgeschichtlichen Höhlenmenschen seine vordere Zunge selbst sich nur mangelhaft zu bewegen[1]. Unter solchen Umständen konnte damals von einer starken Beteiligung der Vorderzunge beim Lautieren keine Rede sein.
Damit stimmt auch die Beobachtung überein, daß je mehr wir in der Sprachgeschichte zurück hineindringen, desto häufiger und energischer finden wir die Tätigkeit der hinteren Organe und Organteile der Mundhöhle, vorzugsweise der Hinterzunge, während man später umgekehrt eine immer stärkere Zunahme der Arbeit der Vorderzunge bemerkt.
Man kann eine Masse lautgeschichtlicher Tatsachen anführen, welche sich unter den Begriff einer Verschiebung von hinten nach vorn in der Mundhöhle selbst stellen lassen. Ich will mich aber nur auf die dahin gehörenden Veränderungen einiger Konsonantenreihen beschränken.
Diese von mir gemeinten Veränderungen sind zweierlei Art: entweder geschahen sie infolge der den sich verändernden Konsonanten innewohnenden Natur allein, d. h. spontan, wie man sagt, oder aber es wurde dazu der ursprüngliche Impuls durch den Einfluß benachbarter Laute gegeben.
Was nun die erste Art betrifft, so ist z. B. in vier westlichen Hauptfamilien des arioeuropäischen oder indogermanischen Sprachstammes, d. h. in der griechischen, in der italischen oder romanischen, in der keltischen und in der germanischen Familie, eine Reihe hinterlingualer, d. h. mit der Hinterzunge ausgesprochener, Konsonanten, k2(q), g2..., labialisiert, mit anderen Worten, von der Hinterzunge zu den Lippen verschoben worden. Wo also früher k, g, ausgesprochen wurde, da spricht man später in den etymologisch entsprechenden WortsteIlen p, b aus, oder wenigsten ku, gu, als Übergang von k, g zu p, b.
In den übrigen Familien desselben arioeuropäischen oder indogermanischen Sprachstammes aber, und zwar in allen asiatischen, d. h. in der indischen, in der iranischen oder persischen und in der armenischen Familie, wie auch in den östlichen Familien desselben Stammes in Europa, im Slawischen, im Baltischen oder Litu-Lettischen und schließlich im Albanesischen, hat sich wieder mit der anderen Reihe hinterlingualer Konsonanten, k1 (k), g1 (ĝ)…, ein anderer Vorgang vollzogen, nämlich eine Verschiebung ihrer Mundartikulation von der Hinterzunge zur Vorderzunge. So slawische s, z z. B. in slovo (Wort), slušati (hören), sto (hundert), desętĭ (zehn), ... , znati (kennen), zrno (Korn), ... , zima (Winter), vezą (fahre)... aus den älteren k, g, gh; vergl. z. B. lateinische cluo, centum, decem, gnosco, granum, hiems, veho, griechische αλέος, ἑκατόν, δέκα, γνώσκω, κειμών.
Etwas ähnliches hat auch in einigen romanischen Sprachen, unter anderem im Französischen, stattgefunden, wo man dem Laut š in solchen Wörtern, wie chien, chambre, chaux, chaud, chose, an Stelle von k der früheren canis, camera, calx, calidus, causa begegnet.
Jedenfalls gehören die Romanen samt den Griechen, Kelten und Germanen zu den vorwiegend labialisierenden Völkern, während die Slawen, die Litauer mit Letten, die Albanesen, die Armenier, die Iranier und schließlich die Inder eine Gruppe von Völkern bilden, bei welcher die Zungenspitze und die Vorderzunge überhaupt vornehmlich bevorzugt wurde. Beides aber, ebenso die Bevorzugung der Lippen, wie auch diejenige der Vorderzunge, geschah hier auf Kosten der Tätigkeit der Hinterzunge.
Eine andere hierher gehörige allgemeine Tatsache, auf welche ich hinweisen möchte, sind die Wandlungen der hinterlingualen Konsonanten k, g usw. in č, ž oder c, dz oder ähnliche infolge der sogenannten Palatalisation oder „Erweichung“ (Mouillierung) durch den Einfluß benachbarter Vokale e, i usw., d. h. die Tatsache, daß man in gewissen Perioden des Lebens verschiedener, selbst miteinander durchaus nicht verwandter, Sprachen für die zu erwartenden Kombinationen ke, ki, ge, gi… den Kombinationen če, či..., že, ži... , oder ce, ci..., dze, dzi ... oder anderen ähnlichen begegnet. Zur Illustration dieses Satzes genügt, es, auf folgendes hinzuweisen: auf die slawischen Veränderungen, z. B. auf točiti (laufen lassen, wälzen), tečenije (Lauf, Strom), množiti (mehren) neben tok- (Strom, Lauf), teką (fließe, laufe) mnogo (viel), auf die lettischen ci (zi), dsi aus den früheren ki, gi, auf die ita-[129]lienischen ce, ci, ge, gi, französischen ce, ci, ge, gi, anstatt der früheren, vulgärlateinischen ke, ki, ge, gi (z. B. italienische cenere, cielo, città... genere, ginnasio... französische cendre, ciel, cité..., genre, gymnase..., entsprechend den lateinischen cinis, coelum, civitas... genus, gymnasium...), auf die englichen church, child, den deutschen „Kirche“, „Kind“ entsprechend, usw. Hierher gehört auch die von Deutschen eingeführte und in ganz Osteuropa übliche Aussprache des Lateinischen: „Zizero“, „zezini“, „fazit“ anstatt der altlateinischen Kikero (Cicero), kekini (cecini), fakit (facit).
Wie sollen wir aber alle diese Verschiebungen von dem durch unser Thema vorgezeichneten Standpunkt aus betrachten? Zur Aussprache von k, g gehört die Arbeit der Hinterzunge, zur Aussprache von č, ž, š, c, dz, s aber diejenige der Vorderzunge. Es ist also die Vertretung der ersten Reihe, k, g, durch die zweite, č, ž, c, dz, und ähnliche, eine Art von Verschiebung der Sprecharbeiten von der Hinterzunge in das Gebiet der Vorderzunge.
So haben uns die oben erwähnten, meistenteils der Lautgeschichte der arioeuropäischen oder indogermanischen Sprachen entnommenen Tatsachen gezeigt, daß in dem historischen Leben dieser Sprachen der unaufhaltsame Drang waltet, die Sprecharbeit von unten und hinten möglichst nach oben und vorn allmählich zu verlegen. Ich bin überzeugt, daß man durch die Erforschung der Geschichte anderer Sprachstämme zu demselben Schluß gelangen würde. Vorübergehend möchte ich nur erwähnen, daß man auch in den semitischen Sprachen einen allmählichen Schwund .und eine allmähliche Schwächung von „Gutturalen“ konstatiert, wobei man unter dem unbestimmten Namen der „Gutturalen“ alle die Laute zusammenfaßt, welche durch eine Tätigkeit entweder des Kehlkopfs oder der Hinterzunge samt dem Gaumensegel hervorgebracht werden.
In dieser Überführung der Sprachtätigkeit aus den tiefen und versteckten Regionen in die mehr zu Tage liegenden oberen und vorderen Gebiete, in diesem „Excelsior!“, welches, wie ein über das Leben der Sprache verhängter Spruch, die ganze geschichtliche Entwicklung ihrer lautlichen Seite bestimmt, sehe ich eben eine Offenbarung ihrer allmählichen, unaufhörlich fortschreitenden, stufenweisen Vermenschlichung.
Dieses Emporsteigen des Sprechens aus den Tiefen der Sprechwerkstatt auf ihre Oberfläche, dem Gesicht näher, harmonisiert vollkommen mit der Körperlage des zweifüßigen, eine erhabene Stellung bewahrenden und kühn mit seinem Gesicht auf die umgebende Welt herab.. blickenden Wesens.
Schon hier aber handelt es sich nicht nur um eine ausschließlich auf die äußeren Organe beschränkte Bewegung. Oben (S. 14) habe ich den Ausdruck „zentralsprachliches Unterscheidungsvermögen“ gebraucht[2]. Und ich mußte es auch tun; denn, wenngleich die Sprache in den äußeren, peripheren Sprachorganen zum Vorschein kommt, so kann sie doch wirklich existieren, ein dauerndes, ununterbrochenes Leben führen nur Sprachzentrum, nur im Zerebrationsorgan, möge es als Gehirn oder als eine von demselben unabhängige Seele gefaßt werden. Die hörbaren Laute und die dabei sich vollziehenden Arbeiten der Sprechorgane haben nur eine vorübergehende, verschallende, verschwindende Existenz; ein wahres, wirklich sprachliches Leben ist nur den Erinnerungsbildern, ist nur den Vorstellungen dieser Laute und Arbeiten eigen. In allen Teilen und Teilchen der Sprache, mögen sie noch so ihre physische Beschaffenheit uns zeigen, pulsiert doch und kann pulsieren nur rein psychisches Leben.
Aber es gibt in der Sprache auch solche Seiten, für welche wir kein äußeres Zeichen besitzen, und welche sich weder in Lauten, noch in Arbeiten der Sprachorgane kundgeben. Das ist das große Reich der Bedeutungen, welche den Wörtern anhaften, d. h. sich mit den Vorstellungen von Lauten und Artikulationen assoziieren.
Wie steht es nun in Betreff unserer Frage mit dieser inneren, mit dieser innersten Seite der Sprache? Können wir auch hier nicht auf etwas hinweisen, was sich als allmähliche Vermenschlichung auffassen ließe?
Die Kürze der mir beschiedenen Zeit erlaubt mir nicht, mich eingehend und ausführlich mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich will nur einiges erwähnen.
Die von den Tieren hervorgebrachten eigenartigen Laute, wie auch die interjektionsartigen Laute des Menschen, haben immer eine Bedeutung, sie bedeuten etwas. So gebraucht z. b. die Katze, wenn sie sich als Mutter mit ihren Kindern unterhält, wenigstens zehn verschiedene Laute, von denen jeder eine besondere Bedeutung hat: Aufforderung, Ermunterung, Drohung, Weisung, Liebkosung, Lockruf usw. Es sind in neuester Zeit Beobachtungen an Affen angestellt worden, wobei es sich zeigte, daß diese dem Menschen nächststehenden und daher „Anthropoiden‘, d. h. „Menschenähnlichen“, genannten Säugetiere sich zur gegenseitigen Verständigung gewisser Laute bedienen, die je nach den Gattungen dieser Tiere verschieden sind und durch diese ihre Verschiedenheit an die Verschiedenheit menschlicher Idiome erinnern.
Jedenfalls aber ist es sicher, daß diese tierischen Lautäußerungen einen ihnen allen gemeinsamen Zug besitzen: Sie sind durch die Natur des betreffenden tierischen Organismus selbst dazu bestimmt, eben das auszudrücken, was sie wirklich ausdrücken. Sie müssen gerade dasjenige Gefühl, gerade diejenige Vorstellung wachrufen, welche sie tatsächlich wachrufen, und zwar auf dem Wege eines unmittelbaren sinnlichen Eindrucks. Und damit endet ihre Aufgabe.
Unterdessen zeichnen sich alle einer wirklich menschlichen Sprache angehörenden Wörter durch die Fähigkeit aus, immer neue Bedeutungen anzunehmen, wobei ihre Genesis, die Quelle ihrer Bedeutung ge:wöbnlich vollkommen vergessen wird. Sie sprechen von sich selbst weder zum Gefühl, noch zum Vorstellungsvermögen; sie bedeuten etwas nur deswegen, weil sie sich mit einer gewissen Reihe von Bedeutungen assoziiert haben. Der Charakter einer Notwendigkeit ist ihnen vollkommen fremd. Sie verdanken ihre jezeitige Anwendung nur einer Verkettung von Zufälligkeiten. Warum z. B. der Kopf deutsch „Kopf“ oder „Haupt“, russisch „golova“, estnisch „pää“, lateinisch „caput“, französisch „tête“ heißt, ist nur durch Zufall bedingt worden.
So sind die bei weitem meisten Wörter der menschlichen Sprache nur zufällig entstandene Symbole, die unter anderen Umständen sich ganz anders hätten gestalten können, in voller Unabhängigkeit von den durch sie hervorgerufenen sinnlichen Eindrücken.
Und es ist eben diese Zufälligkeit das Charakteristische der Sprache. Selbstverständlich rede ich hier von keiner absoluten Zufälligkeit, – denn eine solche anzunehmen verbietet uns die die Grundlage jedes wissenschaftlichen Denkens bildende Überzeugung von der Notwendigkeit in der Verkettung von Ursachen und Wirkungen, – nein, ich rede von keiner absoluten Zufälligkeit, sondern von einer Zufälligkeit in den Grenzen der sich auf die gegebene Frage beziehenden Begriffe.
Kurzum, es tragen bei den Tieren die Bedeutungen der Lautäußerungen in ihrer Beziehung zu eben diesen letzteren immer den Charakter der Notwendigkeit, Unmittelbarkeit und verhältnißmäßigen Unveränderlichkeit an sich, – alles das Merkmale, welche der Natur menschlicher Rede schnurstracks widersprechen.
Da diese Lautäußerungen der Tiere, wie auch die ihnen analogen in der menschlichen Sprache (wie die Interjektionen), immer eine bestimmte Vorstellung oder ein bestimmtes Gefühl wachrufen, so sind sie immer an eine bestimmte Konkretheit gebunden. Sie sind, im Grunde genommen, solange sie eben Lautgebärden bleiben, keiner Abstraktion fähig.
Die Wörter der menschlichen Sprache dagegen sind keineswegs bloß Zeichen gewisser konkreter Erscheinungen, sondern stellen vielmehr Abstraktionen dar, denen in der Außenwelt direkt nichts unmittelbar sinnfälliges entspricht; infolgedessen eignen sie sich immer mehr einerseits zu von der Sinnlichkeit unabhängigem Denken und Nachdenken, anderseits wieder zum vergeistigten poetischen Schaffen. Wenn man auch hier und da einen Rückschritt, d. h. eine Rückkehr von Abstraktion zur Konkretheit, wahrnehmen kann, so ist doch das Resultat dieser Oszillation im ganzen großen ein allmählicher Fortschritt zu immer größerer Vergeistigung der Sprache.
Und so sehen wir, daß, während die Aussprache, das äußere Sprechen immer mehr nach außen hervortritt, das innere Sprechen, das sprachliche Denken immer mehr in die Tiefen der menschlichen Seele hinabsteigt, immer abstrakter wird.
Dieses Auseinandergehen, diese immer größere Entfernung zwischen den Extremen des äußeren und inneren Sprechens findet eine Parallele in anderen Seiten der Entwicklung des Menschen. Je mehr sich der Mensch in seinem Denken vertieft, je feiner, je vervollkommener sein Denkapparat wird, desto ausdrucksvoller, desto individueller pflegen auch ceteris paribus seine Gesichtszüge zu werden. Und das hoch ausgebildete wissenschaftliche Denken wird dem Menschen zum Mittel zu einer immer umfassenderen und gewaltigeren Beherrschung der Natur.
Diese immer weiter greifende, immer allseitigere Beherrschung der Natur, diese Utilisierung der Aussenwelt, diese Beseitigung räumlicher und zeitlicher Schranken, im Zusammenhang mit der kulturellen Entwicklung der Menschheit, reflektiert sich auch auf dem sprachlichen Boden. Ich brauche nur die vor so vielen Jahrtausenden erfundene Schrift, und dann die neuesten Erfindungen, wie Telegraph, Telephon usw. zu nennen.
Es bliebe noch übrig, den Prozeß der Vermenschlichung der Sprache auch in dem Sprachbau, in der morphologischen Seite der Sprache nachzuweisen, welche ja das ausschließlich Sprachliche, das Sprachliche im strengsten Sinne des Wortes ausmacht.
Der Sprachbau, die Sprachform, die so zu sagen, morphologische Artikulation, bestehend in Teilung des Satzes in Wörter, der Wörter aber in bedeutsame Teile, ist den Tieren, ist den tierischen unteilbaren Gebärden vollkommen fremd.
Die Aufprägung der echt sprachlichen Form auf den Stoff der früher ungeformten Gebärden war ein gewaltiger Schritt zur Vermenschlichung der Sprache. Ob aber diese Vermenschlichung auch später weiter fortschreitet, analog dem, was wir bei der Entwicklung der lautlichen und der rein psychischen Seite der Sprache gesehen haben, kann ich nicht sagen. Es lassen sich wohl in den die morphologische Seite der Sprache betreffenden Veränderungen historische Oszillationen bemerken. Um aber dabei eine fortdauernde Bewegung in einer bestimmten Richtung konstatieren zu können, dazu besitze ich nicht Material genug, und muß auf die Formulierung eines sich darauf beziehenden allgemeinen Satzes vorderhand verzichten.
Alle die sprachlichen Veränderungen, die man als allmähliche, stufenweise Vermenschlichung der Sprache bezeichnen kann, geschehen nicht programmäßig, nicht als Wirkungen des Strebens nach einem von vornherein gesteckten Ziel, sondern als notwendige Folgen des den sprechenden Geschöpfen innewohnenden Strebens nach Erleichterung in allen drei Richtungen, in welche sich der Prozeß des Sprechens zerlegen läßt: in der zentrifugalen Richtung der Phonation (diesen und die folgenden termini werde ich folglich erklären), in der zentripetalen Richtung der Audition und im sprachlichen Zentrum, in der Zerebration. Die erstere, die Phonation, besteht in dem Aussprechen, dem Hörenlassen der Wörter, die zweite, die Audition, ist das Hören und das Aufnehmen des Gesprochenen, die dritte aber, und zwar für das Fortbestehen der Sprache die bei weitem wichtigste, die Zerebration, ist das Merken alles dessen, was sich auf die Sprache bezieht, ist das Aufbewahren und die Bearbeitung aller sprachlichen Vorstellungen in der sprachlichen Schatzkammer der Seele ist das sprachliche Denken.
Nach allen diesen Richtungen hin wird das Unklare, das Unbestimmte, das Unnütze nach und nach beseitigt, nach und nach abgeschafft. Um nur ein Beispiel anzuführen, ist die Verschiebung des äußeren Sprechens von unten und hinten nach oben und vorn eine große Erleichterung. Vorn und oben kann man beim Sprechen mit geringerer Anstrengung, dafür aber mit größerer Präzision und Bestimmtheit arbeiten, als in den unteren und rückwärts liegenden Gebieten. Dementsprechend wird das auf die oberen und vorderen Gebiete gerichtete zentralsprachliche Unterscheidungsvermögen viel weniger angestrengt, als da, wo es mit den unteren und hinteren Regionen zu tun hat.
Aber, trotz allem Streben des Menschen nach der Beseitigung des Unnützen und Überflüssigen wimmelt die Sprache, ebenso wie die ganze organische Welt, von überlebenden, nicht mehr funktionierenden, nicht mehr sinnvollen Gebilden.
Damit sind wir ans Ende unserer Betrachtung gelangt, und es bleibt mir nichts mehr übrig, als Sie, hochverehrte Anwesende, um Nachsicht zu bitten, wenn es mir nicht gelungen sein sollte, es Ihnen nach allen Seiten genügend klar zu machen, daß es erlaubt ist, einige in der Geschichte der Sprache und der Sprachen sich unaufhörlich kundgebenden Strömungen unter dem allgemeinen Gesichtspunkt einer fortdauernden, allmählichen Vermenschlichung der Sprache zusammenzufassen.
Nachwort
Nachträglich möchte ich hinzufügen, daß ich den Gedanken von der Verschiebung der Sprechtätigkeit in der Richtung zu der Zungenspitze und zu den Lippen schon nach der Abfassung und endgültigen Redaktion [134] meines Vortrags auch bei Dr. Fr. M. Claudius in seinem Aufsatz „Das Leben der Sprache“ (abgedruckt aus den Schriften der Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Naturwissenschaften zu Marburg. Band IX. Marburg 1867) ausgesprochen gefunden habe. Er sagt ja nämlich:
„Wir finden nun in den indogermanischen Sprachen durchaus eine Vereinfachung der Lautbildung. So war früher die Aspiration in diesen Sprachen eine häufig vorkommende Zutat zu gewissen Lauten; jetzt ist dieselbe nur selten und in den am weitesten vorgeschrittenen Sprachen, im Englischen und Französischen, kommt sie fast gar nicht mehr vor. Es macht sich überhaupt die Tendenz geltend, die Sprachlaute nicht im Hintergrund des Mundes zu bilden, sondern vorn in demselben mit der Zungenspitze oder den Lippen. Auf diese Weise wird eine geringere Masse bewegt und es werden deshalb weniger Kräfte verwandt. Wenn weniger kultivierte Sprachen Kehl- und Gutturallaute im Überfluß zeigen, so haben ausgebildetere solche nicht mehr. Es kommt noch ein anderes Moment hinzu. Je mehr die Laute mit den Lippen gebildet sind, um so schärfer können sie ausgesprochen werden, und zugleich kommt die Umgegend des Mundes in Bewegung und das Gesicht wird auf diese Weise lebendig. So sehen wir Bewohner größerer Städte aus höheren Ständen eleganter und markierter sprechen, als die niedere Bevölkerung, zumal an Küsten, wo sehr wenig auf das Äußere gegeben wird. Zugleich ist das Gesicht von gebildeten Leuten beim Reden belebter als von weniger gebildeten, so ist eine Verschiedenheit der Sprachen in dieser Beziehung bemerkbar. Die französische z. B., die in dieser Hinsicht am weitesten vorgeschritten ist, lautiert viel bestimmter als die englische oder die plattdeutsche, und man sieht beim Sprechen den Mund des eleganten Franzosen mehr in Bewegung als bei englischen, holländischen oder deutschen Fischern“ (pg. 15).
„Es ist ein Vorrücken von den hinteren Mundteilen nach vorn gegen die Lippen und die Spitze der Zunge an den Sprachen bemerkbar“ (pg. 18).
Mit dieser im ganzen richtigen und objektiven Auffassung der Sprachgeschichte seitens des Dr. Claudius stehen im Widerspruch und berühren uns sonderbar seine sonstigen Äusserungen, die er meistenteils von anderen Gelehrten entlehnt hatte. So lesen wir bei ihm z. B.:
„Wie bei allen Organismen unterscheiden wir im Leben einer Sprache drei Perioden, die des Wachstums, die der Blüte und eine dritte des Verfalls (!!) derselben“ (pg. 13).
"Der Verfall(!) trat allmählich ein, als das Wissen, die Gedanken, einen gewissen Umfang erreicht hatten (pg. 15).
Dorpat, im Mai 1892
[1] Cf. E.-T. Hamh, Précis de paléontologie humaine. Paris 1870, S. 233, 347, 352, 368. – Gabriel de Mortillet, Le Préhistorique, antiquité de l’homme. Paris 1883 (Bibliothèque des sciences contemporaines), S. 249 ff., 345. – Paul Topinard, L’anthropologie. Avec préface du professeur Paul Broca. 2e édition. Paris 1877 (Bibliothèque des sciences contemporaines), S. 58, 99, 159. – Außerdem macht mich mein verehrter Kollege, Prof. Dr. A. Rauber, noch auf Renards Variations ethniques du maxillaire inférieur. Thèse de Paris 1880, als ein für diese Frage sehr wichtiges Werk, aufmerksam; ich konnte es aber bis jetzt noch nicht benutzen. (Mai 1892).
[2] Anstatt dessen könnte man auch, und zwar noch genauer, sagen: „das auf die Arbeit der Sprachorgane gerichtete Unterscheidungsvermögen.“