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Centre de recherches en histoire et épistémologie comparée de la linguistique d'Europe centrale et orientale (CRECLECO) / Université de Lausanne // Научно-исследовательский центр по истории и сравнительной эпистемологии языкознания центральной и восточной Европы


-- Gerhard DEETERS (Bonn) : «Die Sprachwissenschaft in der Sowjetunion», in Bolschewistische Wissenschaft und „Kulturpolitik“, Königsberg und Berlin: Ost-Europa-Verlag, 1938, Seite 236-251.

                                                                          

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Vor mir liegt die erste ausführliche Grammatik des Tschetschenischen, einer von etwa 300000 Menschen gesprochenen Sprache im zentralen Kaukasus, die von Angehörigen dieses Volkes selbst verfaßt ist: Ch. Jandarov, A. Maciev, A. Avtorchanov, Noxčijņ metiiņ grammatik (Groznyj 1933). Als Motto trägt sie den Ausspruch Stalins: „Die Periode der Diktatur des Proletariats und des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR ist eine Periode der Blüte der nationalen Kulturen, die in ihrem Gehalt sozialistisch und in ihrer Form national sind". Und davor steht die Widmung: „Dem unermüdlichen Kämpfer und Begründer der marxistischen Sprachwissenschaft, dem Bolschewik-Akademiker Nikolaj Jakovlevitsch Marr, widmen wir unsere Arbeit zum Tage des 45jährigen Jubiläums seiner wissenschaftlichen Tätigkeit." Die Namen dieser Männer — beide ebenfalls Kaukasier — sind bezeichnend für die Lage der Sprachwissenschaft in der Sowjetunion überhaupt: die durch Stalin vertretene Nationalitätenpolitik hat unzweifelhaft zunächst eine Verbreiterung und Vertiefung der sprachlichen Forschung mit sich gebracht, in der theoretischen Sprachwissenschaft dagegen hatte wenigstens bis vor zwei, drei Jahren die „japhetitische Theorie" die Herrschaft erlangt; wie es jetzt, nach dem Tode ihres Begründers, um diese Theorie steht, ist von hier aus schwer zu beurteilen, da uns die betreffende Literatur nur mit Verspätung zugänglich wird, doch scheint die Bedeutung Marrs für die bolschewistische Wissenschaft noch unverändert zu sein.(1)

Gewiß hat es auch im Rußland der Vorkriegszeit nicht an Forschern gefehlt, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Sprachen der, im Russischen Reiche lebenden Fremdvölker wissenschaftlich zu erforschen, — man braucht nur an Namen wie Castrén, Schiefner, Baron Uslar, Radloff u. a. zu erinnern —,
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und man hat auch versucht, für die schriftlosen kleinen Völker Alphabete zu schaffen und Elementarschulen in ihrer Muttersprache zu gründen. Aber die Eingeborenen witterten hinter diesen Maßnahmen missionarische oder russifikatorische Bestrebungen und blieben den Schulen fern; die mohammedanische Geistlichkeit benutzte das Arabische als Schriftsprache, wenige Angehörige der Oberschicht besuchten russische Schulen und wurden zum großen Teil ihrem Volkstum entfremdet, die Angehörigen der großen Masse blieben Analphabeten. Die höhere Schulbildung und erst recht die Hochschulbildung war ja auch solchen Fremdvölkern, wie z. B. den Georgiern, die eine jahrtausendalte nationale Tradition und eine ältere Schriftsprache als sie das Russische, ist, besaßen, nur durch das Mittel des Russischen zugänglich. Das ist nun anders geworden. Um wieder Georgien als Beispiel zu nehmen, so besitzt es ein nationales Schulwesen mit der Universität Tiflis als Spitze; an ihr sind nur Georgier tätig, und die Inhaber der Lehrstühle für georgische Geschichte, georgische Literaturgeschichte und georgische Sprache können verhältnismäßig unbehindert in durchaus wissenschaftlichem Geiste fruchtbare Arbeit leisten. Erforschung der Dialekte, Sammlung und Bearbeitung altgeorgischer Handschriften, Herausgabe der klassischen Literaturwerke werden eifrig gefördert. In den Sprachen, die früher schon bescheidene Anfänge eines Schrifttums hervorgebracht hatten, wie etwa Tschuwassisch, Mordwinisch, Ossetisch, Abchasisch, Awarisch, hat die Literatur, jedenfalls dem Umfang nach, einen großen Aufschwung genommen; neben den natürlich in erster Linie erwünschten Erzeugnissen moderner Schriftstellerei mit plump aufklärerischer und bolschewistisch propagandistischer Zielsetzung erscheinen doch auch Sammlungen von volkstümlichen Überlieferungen, so daß mit der nationalen Form ein gewisser nationaler Gehalt mitgegeben ist. Hand in Hand mit der Ausbreitung der Schulbildung und der Literatur geht die grammatische und lexikographische Erforschung der betreffenden Sprachen. Das gilt in besonderem Maße für die zahlreichen bisher völlig schriftlosen Sprachen; auf Grundlage des lateinischen Alphabets wird für sie eine Schrift geschaffen, in der allmählich die für den Elementarschulunterricht nötigen Bücher herausgegeben werden. Dabei werden auch die kleinsten Völker nicht vergessen: für die (nach der Volkszählung von 1926) 2761 Uden, die in zwei Dörfern des südöstlichen Kaukasus wohnen, ist 1934 eine Fibel erschienen mit parallelem Text in den beiden voneinander leicht abweichenden Mundarten, nach Pismennost i revoljucija, I
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(1933), S. 134ff., sind im Jahre 1931 die 1711 Lappen, die 1292 Eskimos und die 353 (!) Aleuten (auf den Kommandeurinseln; der weitaus größere Teil dieses Volkes lebt außerhalb der Sowjetunion) mit eignen Alphabeten auf Grund der Lateinschrift beglückt worden. Daß aber in diesen Fällen durch ziemlich mechanisch übersetzte Einheitsfibeln, die in wünschender Aufdringlichkeit das Glück des Kolchosbauern und die Tugenden des Roten Pioniers preisen, eine „Blüte der nationalen Kulturen" herbeigeführt werden könne, wird man schwer glauben; vielmehr hat hier die „nationale Form" einzig den Zweck, den kleinen Völkern den „sozialistischen Inhalt" schmackhafter zu machen. Die Bemühungen, die Grundzüge der Theorie des Kommunismus in Sprachen auseinanderzusetzen, denen sämtliche Begriffe der kapitalistischen Wirtschaftsweise fehlen, führen oft nur zu einem mit russischen Wörtern und allgemeineuropäischen Fremdwörtern durchsetzten Kauderwelsch, das aber den Zweck hat, zu der künftigen Gemeinsprache der „klassenlosen Gesellschaft" überzuleiten.

Diese neu belebte sprachliche Einzelforschung findet ihre Krönung in einer universalen Sprachtheorie, die mit dem An-spruch auftritt, als einzige den Lehren des dialektischen Mate-rialismus Genüge zu tun und die Sprachwissenschaft aus der Sackgasse herausgeführt zu haben, in der sich die bourgeoise Methode, die Indogermanistik, festgefahren habe. Das ist die von N. Ja. Marr geschaffene japhetitische Theorie oder Japhetidologie. Die für einen Philologen einzigartige Stellung, die Marr in der sowjetrussischen Wissenschaft einnahm, zeigt sich in der Fülle der Ämter und Würden, die er bekleidete: Professor an der Universität Leningrad, Direktor der öffentlichen Bibliothek, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften und Präsident ihrer transkaukasischen Filiale, Gründer und Vorsitzender des der Akademie angeschlossenen Instituts für Sprache und Denken (bis 1930: Japhetitisches Institut), Gründer und Vorsitzender der Akademie für die Geschichte der materiellen Kultur, Mitglied der Kommunistischen Akademie, Mitglied der Kommunistischen Partei und des VCIK, Inhaber des Leninordens und des Titels eines „Verdienten Wissenschaftlers". Diese Stellung verdankte er der ehrlichen Überzeugung, die er dann durch die Macht seiner suggestiven Persönlichkeit auch den maßgebenden Stellen beigebracht hat, daß mit seiner Theorie eine völlig neue Epoche der Sprachwissenschaft angebrochen sei, daß wenigstens auf diesem Gebiet die junge „proletarische" Wissenschaft die bürgerliche Wissenschaft entscheidend geschlagen habe. „Unsere Auf-
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fassung von der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Rede steht im diametralen Gegensatz nicht zu der Wissenschaft von der Sprache, sondern zu den fossilen Ansichten ihrer Diener, der ungeheuren Mehrzahl der Vertreter der herrschenden linguistischen Schule" (Marr, Po etapam..., S. 286). Dieser Anspruch der Theorie, und der Einfluß, den ihr Schöpfer ausgeübt hat, rechtfertigen es, daß wir uns ausführlicher mit ihr beschäftigen als es ihrer wissenschaftlichen Bedeutung zukommt. Denn von einer solchen kann man im Grunde überhaupt nicht sprechen; gewiß enthält die Theorie einzelne fruchtbare Gedanken, aber sie sind eingebettet in das einer eigentümlichen vorwissenschaftlichen Denkungsweise entspringende System, das nur als Ganzes angenommen, d. h. geglaubt, oder abgelehnt werden kann. Deswegen ist es auch nicht ganz einfach, diese Theorie kurz darzustellen, zumal sie zu Lebzeiten ihres Schöpfers in ständiger Umbildung begriffen war.

Um den Eindruck zu ermessen, den die japhetitische Theorie mit ihrem Anspruch, alle sprachlichen Äußerungen bis auf ihre letzten geschichtlichen Urgründe zurückführen zu können, auf den sprachwissenschaftlich nicht geschulten Laien machen muß, wollen wir uns die Art der Antworten vergegenwärtigen, die die bisherige Sprachwissenschaft auf die Fragen der Laien bereit hat. Diese Fragen laufen auf die Frage hinaus: Warum sprechen wir so und nicht anders?, in einem konkreten Fall etwa: Warum heißt der Hund Hund und nicht irgendwie anders? Die Antwort lautet: Der Hund wird im Deutschen Hund, im Lateinischen canis, im Litauischen šuo usw. genannt, weil er bei einem gewissen Volke, dem indogermanischen Urvolk, das vor 2000 v. Chr. im nördlichen Europa gesessen hat, *k(u)uō(n) hieß; aus dieser Form sind nach bestimmten Gesetzen die einzel­sprachlichen Wörter entstanden. Und ebenso heißt der Hund im Abchasischen la, im Tscherkessischen he, im Awarischen hoj usw., weil er in einer nach Zeit und Ort noch sehr unbestimmten Grundsprache, der urnordkaukasischen, etwa *xua genannt wurde. Wenn der Laie aber nun weiter fragt und wissen will, was denn diese Grundformen bedeuten, ob sie untereinander zusammenhängen usw., so kann die Sprachwissenschaft nur mit einem „Ich weiß es nicht" antworten; vor über 50 Jahren ist das indogermanische Wort für den Hund zwar sehr geistreich als „der zum Vieh gehörige" gedeutet worden, aber wir glauben nicht mehr daran. Früher oder später kommt immer der Punkt, an dem die historische Erklärung Halt machen muß. Die Frage des Laien ist um einige Jahrtausende zurückgeschoben, aber
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nicht gelöst; er ist unbefriedigt. Mit welcher Begeisterung wird er statt dessen eine Theorie begrüßen, die ihm zeigt, wie sämtliche Wörter sämtlicher Sprachen der Erde auf vier Urwörter der noch nicht mit der Lautsprache begabten Menschheit zurückgeführt werden können, wobei sich die fesselndsten Aufschlüsse über die geistige Entwicklung der Menschheit auf Jahrzehn-, ja Jahrhunderttausende zurück ergeben, und das nach einer Arbeitsweise, die in einigen Monaten erlernt werden kann: man braucht dazu bloß einen Lehrgang der Japhetidologie durchzumachen. Daß diese Lehre nicht auch in Westeuropa Tausende von begeisterten Anhängern zählt, liegt wohl daran, daß sie nur denen bekannt ist, die gegen sie gefeit sind, nämlich den Fachgelehrten.

Nach der Annahme der japhetitischen Theorie war die älteste Sprache der Menschheit eine „kinetische" Sprache, eine Gebärdensprache, erst des ganzen Körpers, dann namentlich der Hand. Die Gebärdensprache wurde zunächst begleitet, dann immer mehr ersetzt (die Gebärdensprache bei zahlreichen Naturvölkern ist noch ein Überrest aus jener Zeit) durch die Lautsprache; diese war ursprünglich nur im Besitz der Klasse der Magier-Priester und ist entstanden aus vier(2) lautlichen Urbestandteilen, die als eine Art Zauberformel bei gemeinschaftlichen Tätigkeiten ausgestoßen wurden. Ebenso „diffus" wie die Bedeutung dieser Bestandteile war ihr Klang; erst auf einer späteren, artikulierten Stufe stellen sie sich als SAL, BER, JON und ROS dar, besser bezeichnet man sie einfach als Bestandteile A, B, C und D. In engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Denkens zergliedern sich diese Bestandteile in ihrer Lautgestalt. wie auch ihrer Bedeutung und dadurch wird ein immer vielfältigerer Wortschatz aufgebaut. Die Bedeutungsentwicklung folgt dabei hauptsächlich drei Gesetzen: 1. Ein diffuser Begriff spaltet sich in ein Gegensatzpaar: Paare wie Himmel und Erde, Erde und Wasser, Mensch und Tier, Mann und Weib, Sonne und Mond, Tag und Nacht, weiß und schwarz, Kopf und Schwanz, Anfang und Ende, geben und nehmen usw. sind historisch betrachtet jeweils dasselbe Wort. 2. Die Bezeichnung des Ganzen wird bei fortschreitender Gliederung auf seine Teile übertragen. So wird z. B. „Wasser" zu „Tropfen", „Welle", „Fisch" — „Himmel" zu „Luft", „Wolke", „Vogel", „Stern"; es wird als kostbarer Ar-
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chaismus verständlich, warum im Kürinisdien (einer ostkaukasi­schen Sprache) „Fisch" und „Stern" γed lauten: beides ist „Himmel". 3. Der Name eines Dinges, das in seiner Funktion, seiner Verwendung durch den Menschen, von einem anderen abgelöst wird, wird auf dieses neue Ding übertragen — an sich ein durch-aus möglicher Vorgang, wie die Bezeichnung unseres stählernen Schreibgeräts als „Feder" zeigt. Wie die Hand als Werkzeug ersetzt wird durch den Stein, dann den Hammer, den Meißel usw., das Ren als Zugtier durch den Hund, das Rind, das Pferd, so wird das Wort „Hand" zur Bezeichnung der Werkzeuge, er-gibt das Wort „Ren" die Namen der Zug- und Haustiere. Hören wir Marr selbst (wobei für den Stil als Entschuldigung dienen mag, daß es sich um einen populären Vortrag handelt): „So führte z. B. anfänglich der ,Himmel’, die ,Erde’ und die ,Unterwelt’ einen und denselben Namen. Der ,Himmel’ und seine Teile, die ,Himmelskörper’ ,Sonne’, ‚Mond’, die ‚Sterne’, ebenso die Umgrenzung des ‚Himmels’, die ,Wolken’, sogar die ,Vögel’ führten ein und dieselbe Bezeichnung, so daß das Wort ,Vogel’ und jeder Name einer besonderen Vogelgattung sich als Sonder-formen von Wörtern, die ,Himmel’ oder ,Himmelreich’, später ,Himmelskind’ bedeuteten, erwiesen haben. Der ‚Himmel’ wurde als ,Feste’ und als ,Wasser’ aufgefaßt, er wurde aufgefaßt als Ausdehnung in der Zeit und im Raum, so daß ,Himmel’ und ,Wasser’, ‚Himmel’ und ,Jahr’, ,Raum’ und ,Zeit’ sich als ebenso ‚Himmel’ bedeutend erwiesen haben. Das Denken des vorgeschichtlichen Menschen war nicht abstrakt, nicht wissenschaftlich, nicht logisch, sondern konkret, poetisch, bild-lich, mit einer Verwandtschaft der Wörter als Symbole, als Träger von Bildern. Wenn man ,Kreis’, ,Gewölbe’, ,Bogen’, ,Kugel’ sagen wollte, sagte man ‚Himmel’. Andererseits bezeich-nete man den ,Himmel’ und den ,Berg’, ebenso den ,Kopf’ mit demselben Wort. Schließlich diente ‚Himmel’ auch als Name für den Stammesgott, das sogenannte Totem... Wenn der ,Himmel’ seit einer gewissen Epoche eine ungeheure Rolle spielt, nämlich seit der Epoche des Aufkommens des allweltlichen, kosmischen Denkens und der entsprechenden religiösen Vorstellungen, wenn der ,Himmel’ ,Gott’ ist, wenn einerseits der ‚Himmel’ auch ,Wunderzeichen’, ,Name’ bedeutet, andererseits die ,Hand’ des Urmenschen ‚Zeichen’, ,Hinweis’, ,Wunderzeichen’, die ,Hand’ ‚Starke’, ,Macht’, die ,Hand’ ,Recht’, die ,Hand’ ,Gott’ ist, so kämpft die ,Hand’ mit dem ‚Himmel = Gott’; zweifellos gewinnt die ,Hand’ die Überhand über den ,Himmel’ als das ältere Bild, die ältere Vorstellung, als das älteste, ich möchte sagen das erste Wort der Lautsprache.
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Der Begriff ,Hand' ist der ,Schöpfer’, das Verbum: einzelne abstrakte Verbalvorstellungen gab es nicht, ebensowenig natürlich einen Infinitiv, noch das Verbum überhaupt. Die Handlung oder der Zustand wurden erst im Satz selbst durch ein oder das andere Nomen ausgedrückt, z. B. brauchte man für das »Tun" das Bild der ,Hand’, für das ,Nehmen’ oder ,Geben’ das gleiche Bild der ,Hand’, für das ,Sein’ das gleiche Bild der ,Hand’, für das ,Zeigen’ das gleiche Bild der ,Hand’ usw. usw. Es gibt kein Verbum, das nicht direkt oder indirekt von dem Bild (für uns Begriff) der ,Hand’ herkäme, d. h. es gibt kein Tatverbum, das nicht von dem Wort ,Hand’, dem Werkzeug des Tuns, herkäme, ebenso gibt es auch kein Zustandsverbum, das nicht von demselben Wort ,Hand’ käme, da der urtümliche Mensch sich kein absolutes, abgezogenes Sein oder einen solchen Zustand vorstellte, da er es sich nicht vorstellte ohne Verhältnis zum Menschen, eigentlich zum Stamm, denn man konnte sich auch das menschliche Individuum nicht außerhalb der Zugehörigkeit zum Stamm vorstellen, daher drückte man das ,Sein’ durch dasselbe Wort aus wie das ,Haben’, ,Herrschen’, d. h. durch das Wort, das das Werkzeug des Haltens, Herrschens bezeichnet, also wiederum die ,Hand’, genauer die ,Hände'. Und ist es noch nötig zu sagen, daß aus der ,Hand’ sich die Möglichkeit ergab, in der zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossenen Großfamilie die Zahlwörter zu bilden: ,eins’ und ,zwei’, ,fünf und ,zehn’ und die dazwischen liegenden Zahlen?" (Marr, Izbrannyje raboty, V, S. 326 ff.)

Auf diese Weise erfolgte die Sprachentwicklung in den verschiedenen Urhorden; zwar wurden überall die vier Bestand-teile verwendet, aber in der einen schlug der eine Bestandteil einen bestimmten Weg der Bedeutungsentfaltung ein, in der anderen das andere, und da auch die lautliche Entwicklung auf ganz verschiedene Weise vor sich gehen konnte, entstanden verschiedene Sprachen. Man kann daher in jeder Sprache jeden Bestandteil jeder beliebigen Bedeutung erwarten. Zunächst wur-den die ungeformten Wörter in der Rede einfach aneinandergereiht, es gab keine Unterscheidung der Redeteile, keine Grammatik. Auf dieses „amorph-synthetisch’’ Stadium, das noch in der Struktur des heutigen Chinesischen fortlebt, folgte das agglutinierende und das flektierende Stadium, indem etwa ein selbständiges Wort für „Kind" — das natürlich auf die bekannte Weise auf „Himmel" zurückgeführt wird — zum Deminutivsuffix wurde, andere Wörter zu Kasus- und Verbalendungen wurden usw. Dieser Prozeß geht in der ganzen Welt vor sich; er ist eng verknüpft mit den wirtschaftlichen und sozialen Um-
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wälzungen, aber nicht eindeutig an sie gebunden: manche Völker mit hochentwickelter Wirtschaft, wie z. B. das deutsche, haben eine verhältnismäßig altertümliche Sprache, wie denn überhaupt immer Reste der überwundenen Stadien erhalten bleiben. Benachbarte Sprachen mischen und kreuzen sich untereinander und verschmelzen zu höheren Einheiten; dagegen sind Grundsprachen, wie die indogermanische usw., die von einem Urvolk durch Wanderungen verbreitet worden sind und in verschiedenen Tochtersprachen weiterleben, eine Erfindung der Indogermanistik ohne jede Realität. Es gibt keine Sprachstämme oder Sprachfamilien, sondern „Sprachsysteme", d. h. Gruppen, von Sprachen, die einander ähnlich sind, weil sie dasselbe Stadium erreicht haben. Solche Systeme sind z. B. das türkische, „prometheische" (indogermanische), japhetitische; das letztere, zu dem die Kaukasussprachen, das Sumerische, Elamische, Etruskische, Baskische, aber auch das Tschuwassische zählen, ist für die Sprachwissenschaft deswegen wertvoll, weil sich hier die archaischen Bedeutungsentwicklungen besonders deutlich erkennen lassen.

Das ist die semantische Seite der „linguistischen Paläontologie". Es erhebt sich nun die Frage, wie diese ungeheuer weittragenden Behauptungen bewiesen werden sollen; sonst wären es ja wissenschaftlich ganz wertlose Spekulationen über Möglichkeiten der vorgeschichtlichen Sprachentwicklung. Den Beweis soll die formale Analyse der Wörter liefern, d. h. die Zurückführung ihrer Lautbilder auf die vier Bestandteile A, B, C und D. Diese Technik, die zu der allgemein angenommenen Auffassung des Lautwandels und seiner Gesetze in einem vollkommenen Gegensatz steht, wird erst aus der historischen Entwicklung der japhetitischen Theorie verständlich, die ganz allmählich zu einer allgemeinen, alle Sprachen der Erde umfassenden Theorie geworden ist. Zunächst seien einige Daten über den Lebensgang ihres Schöpfers gebracht.

Nikolaj Jakovlevitsch Marr ist am 7. Januar 1865 in Kutais geboren als Sohn eines eingewanderten Schotten, der eine landwirtschaftliche Schule leitete und sich um die Einführung der Teekultur in Georgien Verdienste erworben hat, und einer Gurierin. Die Ehe der Eltern war wenig harmonisch, da sie sich miteinander kaum verständigen konnten; der Sohn wuchs auf dem Lande unter dem Einfluß der früh verwitweten Mutter auf, ganz als Georgier. Er besuchte das Gymnasium in Tiflis und dann die Universität Petersburg, wo er Orientalistik (Armenisch, Georgisch, Persisch, Sanskrit, Arabisch, Syrisch) studierte; in die vergleichende Sprachwissenschaft scheint er nie schulmäßig ein-
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geführt worden zu sein, wohl mit ein Grund dafür, daß er spä-ter diese Wissenschaft mißachtete und bekämpfte, ohne doch ihre Methoden zu beherrschen. Gefördert durch 'den bekannten Orientalisten Baron Viktor Romanovitsch Rosen, schlug Marr die wissenschaftliche Laufbahn ein; infolge von Meinungsverschiedenheiten mit dem damaligen Vertreter des Georgischen an der Petersburger Universität, Cagareli, habilitierte er sich im Jahre 1891 nicht für Georgisch, sondern für Armenisch. 1902 wurde er ordentlicher Professor der armenischen und georgischen Philologie, 1908 Mitglied der Akademie der Wissenschaften. In diesen Stellungen, zu denen nach der Revolution noch allerhand andere Ämter traten, blieb er bis zu seinem Tode am 20. Dezember 1934, indem er eine sehr fruchtbare wissenschaftliche und organisatorische Tätigkeit entfaltete, die nur durch zahlreiche wissenschaftliche Reisen und Studienfahrten unterbrochen wurde: nach dem Sinai, dem Athos und nach Jerusa-lem zum Studium altgeorgischer Handschriften, nach Transkaukasien zur Aufnahme lebender Sprachen, nach dem Kriege auch in andere Teile Rußlands und nach Westeuropa zur Aufspürung japhetitischer Zusammenhänge in allen möglichen Sprachen. Auch als Archäologe hat er sich durch seine während vieler Sommer durchgeführten Ausgrabungen der mittelalterlichen armenischen Stadt Ani betätigt. Es ist eine Eigentümlichkeit von Marrs Arbeitsweise, daß er eine lebende Sprache erst dann wissenschaftlich verwertet, wenn er sie selbst aus dem Munde des betreffenden Volkes gehört hat; so bedeuten seine zahlreichen Rei-sen, die ihn immer neue Sprachen kennen lehrten, immer neue Erweiterungen seines wissenschaftlichen Gesichtskreises. Dadurch wollte er seine Forschungen in ständiger Fühlung mit der Wirklichkeit erhalten, und er ist stolz darauf, daß er seine wesentlichen Erkenntnisse nicht am Schreibtisch gewonnen habe, sondern auf Wanderungen, im Sattel und beim lebendigen Gespräch. So hoch aber auch ein auf diese Weise selbst erarbeiteter Schatz von Tatsachenwissen zu schätzen ist, so liegt in dieser Methode ein gut Teil von hochmütiger Unterschätzung der Arbeiten Früherer; denn schließlich kann man aus einer Grammatik, die auf jahrelangem Studium einer Sprache erwachsen ist, mehr lernen als auf einer kurzen Forschungsreise in das betreffende Sprachgebiet. Aber gerade diese Arbeitsweise erklärt die Entwicklung der japhetitischen Theorie, nachdem sie einmal über das Gebiet der südkaukasischen Sprachen hinausgegriffen hatte.

Marr hat seine wissenschaftliche Laufbahn nicht als Sprach-wissenschaftler in engerem Sinn, sondern als Philologe begon-
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nen, und als solcher hat er sich große Verdienste erworben. Man kann ihn den Schöpfer der modernen georgischen Philologie nennen; seine Ausgaben altgeorgischer Texte (meist in der von ihm herausgegebenen Reihe Teksty i razyskanija po armjano-gruzinskoj filologii = Izdanija fakul’teta vostočnych jazykov lmp. S.-Peterb. universiteta, Nr. 5, Petersburg 1900 ff.) sind die ersten kritischen Ausgaben georgischer Texte überhaupt und sind vorbildlich geworden, wenn auch Marrs dogmatische Scheidung zwischen klassischen und vulgären Sprachformen nicht zu halten ist. Gegen die Ansichten der georgischen Gelehrten der Zeit hat Marr die enge kulturelle Verbundenheit, die in den ersten Jahrhunderten nach der Christianisierung zwischen Georgien und Armenien herrschten, herausgestellt und die Abhängigkeit der georgischen Bibelübersetzung von der armenischen erkannt; in mehreren Arbeiten ist er dem Einfluß Irans auf die ritterliche Dichtung des mittelalterlichen Georgiens nachgegangen. Auch um die Erforschung lebender kaukasischer Sprachen hat er sich verdient gemacht: des Georgischen, seiner Dialekte und Schwestersprachen (Mingrelisch, Lasisch, Swanisch) sowie des Abchasischen (meist in der Reihe Materialy po jafetičeskomu jazykoznaniju, Petersburg 1910 ff.). Auf Grund dieser Leistungen ist Marr Professor und Akademiker geworden; seine sprach-wissenschaftlichen Methoden erregten schon früh das Befremden der Kenner, man nahm sie aber offenbar als belanglose Verirrung des verdienten Philologen mit in Kauf, zumal man gegen einen so hervorragenden Sachkenner eine Polemik auf seinem eigensten Gebiet scheute. Erst in den zwei letzten Jahrzehnten seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hat sich Marr ausschließlich der Sprachwissenschaft gewidmet; aber der Keim der späteren Japhetidologie geht noch in seine Schülerzeit zurück. In dem Bestreben, seine als vereinzelt geltende Muttersprache mit den Sprachen anerkannter Kulturvölker in Verbindung zu bringen, hatte er schon im Jahre 1888 die These aufgestellt (gegen seinen Willen ist sie damals auch in einer georgischen Zeitung veröffentlicht worden), daß das Georgische (und mit ihm die übrigen süd-kaukasischen Sprachen) mit den semitischen und hamitischen Sprachen ganz im Sinne der üblichen Sprachwissenschaft genetisch verwandt sei; die Bezeichnung „japhetitisch" für diesen neuen dritten Zweig der „noetischen" Sprachfamilie lag zu nahe, um nicht gewählt zu werden. Wirklich finden sich in den semiti-schen und den südkaukasischen Sprachen gewisse gemeinsame Züge, z. B. Bildungen mit Präfixen, im besonderen m-Präfixen, sie reichen aber zum Beweise einer Verwandtschaft keineswegs aus. Dazu müßte eine Reihe von gemeinsamen Wörtern auf-
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gewiesen werden, die durch regelmäßige Lautentsprechungen in beiden Sprachgruppen gekennzeichnet sind. Volle zwanzig Jahre nach seiner schon wegen der abgelegenen Stelle, an der sie erschien, unbeachtet gebliebenen Erstveröffentlichung hat Marr seine Theorie erneut vorgelegt, und nun brachte er auch georgisch-semitische Wortgleichungen. Sein verdienstvolles, der Formenbildung des georgischen Verbums gewidmetes Werk Osnovnyja tablicy k grammatike drevne-gruzinskogo jazyka (1908) hat zum Vorwort „vorläufige Mitteilungen" über die Verwandtschaft des Georgischen mit den semitischen Sprachen; sie enthalten in aller Kürze eine systematische Darstellung der Methode der formalen Japhetidologie. Da wird zunächst die „japhetidologische Transkription" erläutert, nach der Marr in der Folge alle Sprachen der Welt umschreibt; sie gibt ein ideales Lautsystem wieder, das durch eine systematisierende Ergänzung des georgischen Lautsystems gewonnen ist. Die Ordnung dieses Lautsystems ist höchst eigentümlich, indem darin artikulatorische und historische (also nicht allgemein, sondern nur dort und dann gültige!) Lautähnlichkeiten und -Übergänge durcheinander gehen. Die einfachen Laute werden eingeteilt in „starke" (die Verschlußlaute, aber auch m, v, f) und „schwache", die wieder in drei Reihen zerfallen: Sonore, Spiranten und Sibilanten; innerhalb der drei letzten Gattungen herrschen besondere Be­ziehungen, indem z. B. dem Sonor r die Spirans h und der Sibilant s entspricht, dem Sonor m/n die Spirans ' (Kehlkopfverschlußlaut, das semitische Aleph) und der Sibilant š usw. Aus der Verbindung zwischen starken Konsonanten und Spiranten bzw. Sibilanten entstehen die zusammengesetzten Konsonanten oder Affrikaten (d. h. Aspiraten bzw. Assibilaten; die Terminologie entspricht nicht der üblichen), so soll z. B. x (der ach-Laut) = k + h sein, q (velarer Verschlußlaut mit Kehlkopfverschluß) = k + h, q (dasselbe ohne Kehlkopfverschluß) = k + Aleph — alles phonetisch ganz absurde, nur der Systematik wegen aufgestellte Behauptungen. Zwischen den Lauten dieses idealen Lautsystems bestehen nun gewisse „gesetzliche" Beziehungen, d. h. Übergangsmöglichkeiten, für die die Formelsprache der Japhetidologie bestimmte Zeichen benutzt: ein schwacher Laut geht durch „Hebung" in einen zusammengesetzten über (der umgekehrte Vorgang heißt „Senkung"), also z. B, h ® x, c ® s; „Umschlagen" heißt der Wechsel zwischen einander entsprechenden Sonoren, Spiranten und Sibilanten und den damit zusammengesetzten Lauten, z. B. s ~ h, c ~ x usw.; „Reihenwechsel" heißt der Wechsel zwischen s und š, c und č usw. Stimmhafte
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und, stimmlose (mit und ohne Kehlkopfverschluß) Verschlußlaute wechseln miteinander, z. B. t¸ → d → t. Noch einige derartige „Gesetze" werden aufgestellt, so daß schließlich mit einigen Umwegen jeder Laut in jeden anderen übergeführt werden kann. Die einzelnen angeführten Lautübergänge lassen sich jeweils für gewisse Perioden der Geschichte gewisser Sprachen belegen, so ist es etwa aus dem Germanischen und Lateinischen bekannt, daß s zu r werden kann, aus dem Griechischen, daß es zu h werden kann (die umgekehrten Wandlungen dürften schon schwerer zu belegen sein); daß „schwache" Konsonanten wie j und m ganz schwinden können, ist u. a. aus dem Semitischen geläufig; daß m und t wechseln, kommt im Georgischen vor; der „Reihenwechsel" ist das lautgesetzliche Verhältnis zwischen den Zischlauten im Georgischen einerseits und im Mingrelisch-Lasischen andererseits usw. Das Unerhörte in Marrs Methode ist aber, daß er diese an Ort und Zeit gebundenen Lautübergänge zu allgemeingültigen Gesetzen erhebt: jedes r oder h kann aus s entstanden sein, jedes c kann mit t (also auch d), s (also auch h, also auch x und k), č (also auch š, ž, also auch j) wechseln, überall kann ein j, ro oder h geschwunden sein usw. Nun wird Etymologie leicht, und so konnte denn auch Marr nach dieser Methode zahlreiche Gleichungen zwischen semitischen und georgischen Wurzeln aufstellen. Bekanntlich ist für die semiti-schen Sprachen charakteristisch, daß alle ihre Wörter von dreikonsonantigen Wurzeln gebildet sind; an den drei Konsonanten hängt die materielle Bedeutung, während die Vokale der Wort-und Formenbildung dienen. Ganz anders das Georgische: hier gibt es zahlreiche Wurzeln mit zwei oder einem Konsonanten, und die Vokalisierung ist für die materielle Bedeutung wesentlich, z. B. kari „Wind", keri „Gerste", kori „Habicht". Aber mit Hilfe angeblich geschwundener schwacher Konsonanten war es Marr ein leichtes, auch den georgischen Wurzeln zu der nötigen Anzahl Konsonanten zu verhelfen.

Die angebliche Verwandtschaft mit dem Semitisch-Hamitischen spielt übrigens bei der weiteren Entwicklung der japhe-titischen Theorie eine geringe Rolle. Wichtiger wurde die allmähliche Erweiterung des Kreises der japhetitischen Sprachen. Zunächst wurde ihnen das im Armenischen zweifellos vorhandene nichtindogermanische Substrat zugezählt; es ist zweifellos ein Verdienst von Marr, auf dieses Substrat, das bei der Behandlung des Armenischen durch die Indogermanisten vernachlässigt worden war, nachdrücklich hingewiesen zu haben, er überschätzte aber allmählich seine Bedeutung immer mehr und ge-
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langte dahin, auch offenkundige Lehnwörter im Georgischen aus dem Armenischen und beiden Sprachen gemeinsame Lehnwörter aus   dem   Iranischen   der   japhetitischen  Erbwörterschicht   zu-zuzählen. Ferner zog Marr die nichtindogermanischen und nicht-semitischen  Sprachen des  alten Vorderasien  heran:  Chaldisch (Urartäisch), Elamisch, Sumerisch, und da er sich in der Inter-pretation der Texte, namentlich des Chaldischen, von Anklängen an georgische oder andere südkaukasische Wörter leiten ließ, war ihm die Verwandtschaft dieser Sprachen mit dem Georgischen nicht zweifelhaft.  Darauf wandte er sich den vorindogermanischen Sprachen des Mittelmeerbeckens zu und erkannte das Etruskische und das Baskische (das tatsächlich unleugbare Be-ziehungen zu den kaukasischen Sprachen hat, bloß sind sie nicht so einfach zu fassen, wie es nach Marr scheint) als japhetitisch. Mit Vorliebe benutzte er zum Nachweis sprachlicher Zusammen-hänge die  etymologische Zergliederung  von Völkernamen, bekanntlich eins der schwierigsten Kapitel der Sprachwissenschaft; für die Japhetidologie ist es aber kein Kunststück, die I-ber-er mit den Su-mer-ern zu identifizieren und diesen Völkernamen auch in Ho-mer (der einen vorgriechischen Namen trägt) wieder­zufinden.   Hier zeigt sich zum erstenmal das Urwort BER, das auch im Namen der Bas-ken und der A-bchas-en wiederkehrt. Das Element SAL stammt aus sumerisch sal „Weib" (in Wirklichkeit ist diese Bedeutung recht unsicher, da sal nur in gewissen Verbindungen im Sinne von „weiblich" gebraucht wird), das mit georgisch kali „Weib" gleichgesetzt wird und in den Chal-dern und  Khar-thwelern  (Georgiern)  wiedergefunden  wird;   da es außerdem in den altgeorgischen Wörtern caj „Himmel", çqali „Wasser", qeli „Hand", зali „Macht" u. a. steckt — die lautliche Verschiedenheit ist ja für die Japhetidologie kein Hindernis —, so kommt  es  hier  zu einer besonders  reichen Entfaltung des „semantischen   Bündels"    „Himmel-Wasser- Weib-Hand-Macht". JON kommt von den Ion-iern her, deren Name mit altgeorgisch hune und russisch kon’   „Pferd" nächstverwandt ist, und ROŠ findet sich u. a. in den Et-rus-kern und ihrer Selbstbezeichnung Ras-ena.   Die späteren vier Elemente aller menschlichen Sprachen sind auf dieser Stufe der japhetitischen Theorie die Namen von vier japhetitischen Urstämmen, die aber auch zur Bezeichnung des Stammesgottes, des Totemtieres usw. der betreffenden  Stämme benutzt wurden, ja deren ganzen Wortschatz aufbauten.   Da die vier Urwörter sich in allen japhetitischen Sprachen finden, sind alle vier Urstämme, die sich auf Kreuz- und Querwanderungen schon in vorgeschichtlicher Zeit mitein-
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ander vermischt hatten, bei der Bildung der historischen japhetitischen Völker beteiligt. Die Kreuzungen unter den Urstämmen zeigen sich darin, daß viele Völkernamen aus zwei Elemen-ten oder auch zwei Formen desselben Elements zusammengesetzt sind, z. B. besteht die georgische Bezeichnung des Griechen berзeni aus BER + JON, und auch das i- der Iberer ist nicht ein Präfix, sondern ein Rest des Elementes SAL. Ebenso erweisen sich nun die meisten Wörter der historischen Sprachen als Zusammensetzungen aus zwei Bestandteilen; der dritte Konsonant der nach der früheren Annahme dreikonsonantigen Wurzeln wird nun als verkürztes zweites Element gedeutet.

Dies etwa war der Stand der japhetitischen Theorie, als sie durch Marrs deutsche Veröffentlichung „Der japhetitische Kaukasus und das dritte ethnische Element im Aufbau der Mittelmeerkultur" (Leipzig 1922) den europäischen Gelehrten bekannt wurde. Ihr Ergebnis, nämlich daß das Mittelmeergebiet vor dem Eindringen der Indogermanen von einer mehr oder weniger einheitlichen weder semitischen noch indogermanischen Bevölkerung bewohnt war, traf mit Ansichten zusammen, die auch schon von anderen geäußert worden waren; und da die Methode, nach der die Ergebnisse gewonnen worden waren, aus der Schrift nicht ganz deutlich hervorging, so wurde sie ernster genommen als sie es verdient. Aber im allgemeinen haben Marrs Theorien keinen Einfluß gehabt; als Ausnahme wäre zu erwähnen, daß P. W. Schmidt in seinen „Sprachfamilien und Sprachenkreisen der Erde" (1926), seine Einteilung der „japhetitischen" Sprachen übernommen hat. Obgleich man den russischen Anhängern Marrs den Stolz über diese Beachtung ihrer Theorie anmerkt, wird sie dem P. Schmidt doch auf eigentümliche Weise gedankt (zugleich ein Beispiel für den Ton, der den „bourgeoisen" Wissenschaftlern gegenüber angeschlagen wird): „Der schlaue Pfaffe, der für seine ,Verdienste' um die Wissenschaft vom Vatikan mit dem Kardinalspurpur belohnt worden ist, hat gewandt einige Bruchstücke der neuen Lehre von der Sprache ausgenutzt, um einerseits mit ihrer Hilfe ihm feindliche Richtungen in der Wissenschaft zu bekämpfen, andrerseits vor der ganzen Welt seine hohe Objektivität in wissenschaftlichen Fragen zu demonstrieren..." (Aptekar, N. Ja. Marr, S. 44).

Im Jahre 1924 trat der entscheidende Umschwung in der Entwicklung der japhetitischen Theorie ein. Aus einer auf die japhetitischen Sprachen beschränkten Lehre wurde sie zu einer universalen Sprachtheorie; nicht mehr sind die japhetitischen Stämme gewandert, nicht mehr sind sie von Völkern mit indo-germanischer Sprache überdeckt und aufgesogen worden, son-
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dem die indogermanischen Sprachen sind nichts als typologische Neuschöpfungen aus demselben japhetitischen Material infolge veränderter wirtschaftlicher Verhältnisse. Nun braucht Marr die auf seine Weise erklärten griechischen und lateinischen, germanischen und slawischen Wörter und Namen nicht mehr als von den Indogermanisten fälschlich indogermanisch gedeutete Lehnwörter aus dem japhetitischen Substrat aufzufassen, — nein, die ganze Indogermanistik ist ein großer Irrtum, eine indo-germanische Grundsprache hat es nie gegeben, man braucht keine knifflichen Lautgesetze, alles läßt sich mit der Methode der Japhetidologie erklären. Und was für das Indogermanische gilt, gilt ebenso für das Türkische und Chinesische, für das Berberische und Hottentottische — die Methode paßt auf jede Sprache. Sonderbarerweise scheinen sich weder Marr noch seine Anhänger je die Frage vorgelegt zu haben, ob es nicht in der Natur der Methode liegt, daß sie nicht anders als stimmen kann, auf welche Art von Lautgebilden man sie nur anwenden mag. Denn es gibt ja gar keine Lautgebilde, die man nicht mit Hilfe von „Hebung", „Senkung", „Reihenwechsel" und den übrigen Künsten der japhetidologischen Methode auf Kombinationen von SAL, BER, JON und ROSˇ oder beliebigen anderen Urwörtern zurückführen könnte. —

Es ist klar, daß eine so abenteuerliche Theorie auch in der Sowjetunion bei den Fachleuten auf Widerspruch stoßen mußte. Es gibt Gelehrte — Namen werden besser nicht genannt —, die sich in ihrer sprachwissenschaftlichen Arbeit überhaupt nicht um die japhetitische Theorie kümmern; andere tuen praktisch dasselbe, fühlen sich aber genötigt, an passenden Stellen allgemeine Verbeugungen vor der Theorie oder ihrem Schöpfer zu machen; noch andere tarnen ihre wissenschaftliche Tätigkeit noch stärker japhetitisch oder nehmen doch wenigstens, um ihren guten Willen zu zeigen, die japhetitische Transkription an. Es ist äußerst schwer, sich von hier aus ein Bild davon zu machen, wie weit die Gegnerschaft gegen die japhetitische Theorie als staatsfeindlich gilt, wieweit etwa das Schweigen einiger verdienter Sprachwissenschaftler als Folge eines Publikationsverbots zu deuten ist. Es hat auch nicht an grundsätzlichmethodischen Angriffen gegen sie gefehlt; die wenigen gegnerischen Veröffentlichungen, z. B. die nicht über das 1. Heft hinaus gelangte Zeitschrift Revoljucija i jazyk (1930), sind mir unzugänglich geblieben (in der Preußischen Staatsbibliothek sind sie nicht vorhanden). So kann ich über die Gegner nur aus den weit zahlreicheren Verteidigungsschriften urteilen, und diese sind eine recht trübe Quelle; wissenschaftliche Polemik und politische Denunziation gehen da
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einen eigentümlichen Bund ein, in dem letztere durchaus die Oberhand hat. Von der sachlichen Richtigkeit der japhetitischen Theorie ist in diesen Schriften kaum die Rede, um so mehr davon, daß allein die japhetitische Theorie den Grundsätzen des dialektischen Materialismus entspricht und alle Gegner Reaktionäre und Feinde der Arbeiterklasse sind. Der Indogermanistik wird vorgeworfen, daß sie rein formalistisch vorgehe; demgegenüber sei die Japhetidologie materialistisch, d. h. sie gehe vom Material, vom Inhalt der Sprache aus; ihre Methode, namentlich die Bedeutungsentwicklung durch Spaltung in gegensätzliche Begriffe, sei echt dialektisch. Was in dieser Theorie dem Marxismus besonders sympathisch sein muß, ist die Leugnung der nationalen Unterschiede in den Sprachen: wenn alle Sprachen durch denselben Prozeß aus denselben Elementen entstanden sind, wobei einige Sprachen bloß in der Entwicklung hinter den anderen zurückgeblieben sind, so liegt die Annahme nahe, daß sie zu der Einheitssprache der „klassenlosen Gesellschaft" zusammenfließen werden, sobald einmal die wirtschaftlichen Verhältnisse überall gleichgeworden sind. Trotzdem ist es nicht wahrscheinlich, daß sich die japhetitische Theorie noch lange halten wird, nachdem ihr Schöpfer tot ist, dessen leidenschaftliches Eintreten für seine Lehre nur zeitweilig die völlige Hohlheit ihrer Grundlagen verdecken konnte.

Schriftnachweise.

Das Verzeichnis der Veröffentlichungen Marrs zählt über 500 Nummern. Eine ausgewählte Ausgabe seiner theoretisch wichtigen Schriften erscheint seit 1933 unter dem Titel Izbrannyje raboty; mir sind Bd. 3 (Moskau-Leningrad 1934) und Bd. 5 (ebd. 1935) bekannt. Eine Reihe von für die Entwick-lung der japhetischen Theorie kennzeichnenden Aufsätzen ist wiederabgedruckt in N. Ja. M a r r, Po etapam razvitija jafetičeskoj teorii (Moskau-Leningrad 1926). Die beste Darstellung von Marrs Leben und Lehre ist V. B. A p t e k a r, N. Ja. Marr i novoe učenie o jazyke (Moskau 1934); ferner sind zu nennen I. I. Meščaninov, Vvedenie v jafetidologiju (Leningrad 1929) und die von Marr selbst geschriebenen Artikel Jafetideskaja teorija und Jafetičeskije jazyki in der Bolšaja Sovetskaja Enciklopedija, Bd. 65 (1931). Mit den Gegnern der japhetischen Theorie wird am ausführlichsten „abgerechnet" in dem Sammelwerk Protiv buržuaznoj kontrabandy d jazykoznanii (Leningrad, GAIMK 1932) und dem Aufsatz von A. Beskrovnyj, Protiv opasnosti obskurantizma v vysšej škole (in Jazykovedenie i materializm, Bd. 2, Moskau-Leningrad 1931).

ANMERKUNGEN

(1) Anm. des Herausgebers: Während des Druckes des Sammelbandes erhalte ich neue Belege für die Fortdauer der großen Wirkung Marrs in der Sowjetunion. [zurück]
(2) Warum es gerade vier Elemente sind, vermag die Theorie nicht zu er-klären; das wird auch nur durch die historische Entwicklung der Japhetideologie verständlich. Da alle vier dieselben Bedeutungen haben und der Lautwandel für diese Theorie überhaupt kein Problem bietet, würde ein Element durchaus genügen. [zurück]



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