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Centre de recherches en histoire et épistémologie comparée de la linguistique d'Europe centrale et orientale (CRECLECO) / Université de Lausanne // Научно-исследовательский центр по истории и сравнительной эпистемологии языкознания центральной и восточной Европы


-- Karl VOSSLER : Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft. Eine sprach-philosophische Untersuchung, Heidelberg : Carl Winter's Universitätsbuchhandlung, 1904.

Inhalt.

 

Seite

Vorwort

V

I. Methodologischer und metaphysischer Positivismus.

1

II. Die positivistische EinteiIung der Sprachwissenschaft

6

III. Auflösung des positivistischen Systemes

12

1. Flexionslehre und Wortbildung

12

2. Satzlehre

33

3. Bedeutungslehre

44

4. Lautlehre und Lautgesetz

47

5. Lautwandel und Bedeutung

64

6. Einheit und Individualität des Accentes

70

7. Die positivistische Verslehre

80

IV.- Das idealistische System der Sprachwissenschaft

88

A Benedetto Croce

[V]
Vorwort.

Der Name meines lieben und hochverehrten Freundes Benedetto Croce, den ich an den Anfang dieser Schrift gesetzt habe, ist aufs engste mit ihr verflochten. Keiner hat, meines Wissens, mit ähnlicher Klarheit, Sicherheit und Folgerichtigkeit die Ästhetik als Wissenschaft vom geistigen Ausdruck und die Sprachwissenschaft als einen Teil der Ästhetik definiert und sämtliche Folgerungen gezogen, die sich aus dieser Definition ergeben. Sein Buch: Estetica come scienza dell'espressione e linguistica generale[1] ist ein philosophisches Ereignis, das von den Vertretern der Philologie auf die Dauer nicht ignoriert werden darf.

Wohl haben schon andere vor Croce, in erster Linie Wilhelm von Humboldt, die Sprachwissenschaft auf den Boden des kritischen Idealismus zu stellen versucht, aber in dem hastigen Eifer empirischer Sprachforschung gingen die Humboldtschen Errungenschaften und überhaupt fast aller Zusammenhang der Philologie mit der Philosophie wieder verloren..

Die folgenden Blätter möchten dazu beitragen, das notwendige Band etwas enger und straffer zu schnüren, indem sie auf die wichtigsten Probleme der Sprachwissenschaft die Grundsätze der idealistischen Ästhetik, wie sie
[VI]
besonders von Benedetto Croce formuliert wurden, allerseits anwenden. Darum gehört ihm dieses Schriftchen nicht allein durch einen Akt meiner persönlichen Freundschaft und Dankbarkeit, - sondern ohne weiteres perfil di logica.

Die einzelnen Vertreter der von mir bekämpften positivistischen Anschauungen habe ich zu nennen und zu zitieren tunlichst vermieden. Nicht daß es mir an Lust oder Mut zu persönlicher Kritik und Polemik gefehlt hätte. Was mich abhielt, war vor allem die Erwägung, daß wissenschaftliche Wahrheiten sich um so schwerer und langsamer durchsetzen, je empfindlicher dabei die Vertreter entgegengesetzter Anschauungen in ihrem Selbstbewußtsein getroffen werden; und daß man die Prinzipien um so entschiedener herausstellen und angreifen darf, je schonender man die Personen zurücktreten läßt.

Der Einzige, mit dem ich mir eine etwas persönlichere Sprache zu reden erlaubte, ist mein verehrter Landsmann und Kollege Eduard Wechßler, von dem ich weiß, daß sein Wahrheitssinn größer ist als seine Empfindlichkeit.

Die Enthaltsamkeit in der Polemik legte mir zugleich Enthaltsamkeit in Zitaten und Verweisen auf[2], was ich mir um so leichter gefallen ließ, als ich, offengestanden, über viele Fragen mehr nach gedacht als nach gelesen habe. Möge diese Arbeitsweise nicht einseitig nur Schaden und Nachteil meinem Büchlein getragen haben.

 

Heidelberg, 20. August 1904.

Karl Voßler.

 

[1]
I. Methodologischer und metaphysischer Positivismus.

Unter Positivismus und Idealismus will ich nicht zwei verschiedene philosophische Systeme oder Gruppen von Systemen, sondern zunächst nur zwei Grundrichtungen unseres Erkenntnisvermögens verstanden wissen. Ich sage: Richtungen, Neigungen, Tendenzen, nicht etwa Funktionen des Erkenntnisvermögens. Unsere Scheidung in Positivismus und Idealismus hat mit der Zweiteilung des Erkenntnisvermögens in Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Abstraktion, Empirie und Metaphysik nicht das Geringste zu tun. Sie bezieht sich nicht auf die Naturbeschaffenheit, sondern auf die Ziele und Wege unseres Erkennens. Positivismus und Idealismus sind nicht erkenntnistheoretische, sondern methodelogische Begriffe.

Da ich die Sprachwissenschaft — ganz wie Croce[3] — zur Gruppe der auf das Anschauungsvermögen (intuitive Erkenntnis) gegründeten historischen Disziplinen rechne, so kann es sich in dieser Schrift in letzter Linie um nichts anderes handeln als um die Frage nach der
[2]
richtigen Anwendung unseres intuitiven Erkenntnisvermögens zum Zwecke objektiver historischer Forschung.

Verschiedenheit der Methode aber bedeutet immer auch Verschiedenheit der Ziele. — Wie ist es möglich, daß über das Ziel der geschichtlichen Wissenschaften Uneinigkeit und Meinungsverschiedenheit herrsche? Kann denn die Aufgabe der Geschichte eine andere sein als die Einsicht in den Kausalzusammenhang des Geschehens? Gewiß nicht !

Jedoch, um den Kausalzusammenhang eines geschichtlichen Vorganges zu erfassen, muß ich zuvor den Tatbestand, d. h. die sämtlichen Faktoren, die etwa mitgewirkt haben können, genau studieren. Darum haben bedächtige Leute als vorläufiges und nächstes Ziel der Forschung die genaue Beschreibung des Tatbestandes, die Kenntnis des "Materials" gesetzt. Diese Vorsichtigen sind die Männer des Positivismus. Die Andern, denen es vorzugsweise um den Kausalzusammenhang zu tun ist, nennen wir "die Idealisten".

Der gute Historiker wird sich bemühen, den Forderungen des Positivisten und denjenigen des Idealisten in gleicher Weise gerecht zu werden. Er wird dem Material der Tatsachen die höchste Ehrfurcht und Gewissenhaftigkeit entgegenbringen, aber er wird bei der bloßen Beschreibung und Kenntnis nicht stehen bleiben, sondern zur kausalen Erklärung und Erkenntnis fortschreiten wollen. Kenntnis ist nur Mittel und Weg zur Erkenntnis. Ein vorläufiges Ziel ist kein selbständiges Ziel, und kann darum auch nicht zu einem selbständigen wissenschaftlichen Verfahren den Grund abgeben. In letzter Linie muß alles historische Verfahren idealistisch sein.

Wir hätten also eine logische Ungenauigkeit begangen, wenn wir den Positivismus als gleichwertige und konträre Größe neben den Idealismus setzten, wie es anscheinend auf dein Titel unserer Schrift geschehen ist?

[3]
Tatsächlich stünde der Begriff des Positivismus zu dem des Idealismus im Verhältnis der Subordination, nicht der Koordination? - Ja und nein!

Neben dem rein methodologischen, vorläufigen und subordinierten gibt es nämlich auch einen metaphysischen, absoluten und dem Idealismus feindlich entgegentretenden Positivismus.[4] Wieder zeigt sich der Gegensatz der beiden Richtungen am schärfsten in der Frage nach dem Kausalzusammenhang.

Der Idealist sucht das Kausalitätsprinzip in der menschlichen Vernunft, der Positivist sucht es in den Dingen, in den Erscheinungen selbst. Auf beiden Seiten ist eine Reihe von Spielarten möglich: der Idealismus kann illusionistisch oder realistisch gestimmt sein, je nachdem er das kausale Denken vom kausalen Sein abtrennt, oder mit ihm identifiziert. Der Positivismus kann pantheistisch resp. atheistisch, oder dualistisch gestimmt sein, je nachdem er das Kausalitätsprinzip mit den Dingen identifiziert, oder von ihnen loslöst. Im Grunde handelt es sich hier um persönliche Überzeugungen, denen ich im einzelnen nachzugehen nicht die Absicht habe.

Zunächst kommt es mir darauf an, zu zeigen, wie der metaphysische Positivismus dem methodologischen Positivismus sich zugesellt, und ihm dem Idealismus gegenüber zu einer selbständigen Bedeutung verhilft, die er an und für sich nicht haben könnte.

Die Ermittelung des Tatbestandes, die genaue Kenntnis alles Gegebenen, welche der methodologische Positivist bescheidenerweise nur als ein vorläufiges Ziel, als Mittel zur Erkenntnis gefordert hatte, die wird nun vom metaphysischen, oder sagen wir besser: radikalen Posi-
[4]
tivisten als das EndzieI selbst bezeichnet. Kenntnis und Erkenntnis, Beschreibung und Erklärung, Bedingung und Ursache, Stoff und Form, Erscheinung und Kausalität sind im Grunde eine und dieselbe Sache. Man fragt nicht mehr: warum? und: wozu? man fragt: was ist? und: was geschieht? Das ist strenge, objektive Wissenschaft.

Tatsächlich ist das gar keine Wissenschaft. Es ist der Tod des menschlichen Denkens, der Untergang der Philosophie. Es bleibt nur ein Chaos von Rohstoff, ohne Form, ohne Ordnung, ohne Zusammenhang. Man entziehe unserer Vernunft den Kausalitätsbegriff und sie ist tot. So kommt es, daß, neben dem Positivismus in der Wissenschaft, der tollste Wunderglaube im Leben aufs prächtigste gedeiht. Nichts verträgt sich besser miteinander als Materialisten, Positivisten, Mystiker und Schwindler. Unser heutiges kulturelles Leben beweist es vortrefflich.

Diejenigen, denen am Gedeihen der Wissenschaft gelegell ist, werden es sich zur Aufgabe machen, die Afterwissenschaft des radikalen Positivismus auf allen Gebieten zu bekämpfen. Dazu ist es nötig, daß der Positivismus auch in seinen verhülltesten, scheinbar unschuldigsten und belanglosesten Formen entdeckt und gerichtet werde; und daß man ihn auch auf denjenigen Gebieten zu Boden schlage, auf denen der Kampf um die Weltanschauung weniger heftig, weniger entscheidend zu wogen scheint.

Ein solches Gebiet ist die Sprachwissenschaft. Gerade hier wird mit irrigen Formeln, und, Begriffen, die dem radikalen Positivismus entstammen, ahnungslos gespielt und gearbeitet von Leuten, die sich in ihren metaphysischen Überzeugungen gewiß nicht zum konsequenten Positivismus bekennen möchten. Solchen Leuten ist ihre Spezialwissenschaft etwas anderes als ihre Weltanschauung. Sie stehen zu ihrem Beruf in einem ebenso zufälligen Verhältnis wie zu ihrem Glauben.

[5]
Demgegenüber ist die vorliegende Schrift in jeder Zeile von der Überzeugung getragen, daß Glauben und Wissenschaft aufs engste zusammengehören, daß jener in dieser sich aufzulösen, und daß mit der Weltanschauung sich tatsächlich auch die Anschauung der ganzen Welt in all ihren kleinsten Einzelheiten zu verändern hat. Man kann nicht, ohne ein Wirrkopf zu sein, in der Philologie an Lautgesetze glauben und in der Philosophie auf dem Standpunkt des kritischen Idealismus stehen.

Wir werden uns im folgenden bemühen, den radikalen Positivismus gewissenhaft von dem rein methodologischen, den selbstherrlichen von dem bescheiden dienenden genau zu unterscheiden; gegen diesen anerkennend und zustimmend, gegen jenen unerbittlich zu Werke gehen.

 



[1] Palermo, Sandron, 1902; 2: Aufl, 1904. Eine deutsche Übersetzung ist in nächster Zeit zu erwarten.

[2] Das Wichtigste findet sich ohnedem schon mehrfach zusammengestellt.

[3] Vgl. dessen Rezension von  A. Ravà, La classificazione delle scienze e le discipline sociali in der Critica, Rivista di letteratura, storia e filosofia diretta da B. Croce. Neapel 1904, Bd. 11, S. 309, ff.

[4] So sehr sich der moderne Positivismus eines Auguste Comte gegen den Titel "Metaphysik" sträubt, so bleibt es doch dabei, daß die Verneinung der Metaphysik auch Metaphysik ist, so gut als Atheismus eine Religion sein kann.